Einst Teil der römischen Elite, verbannt durch Claudius, zurückgekehrt als Hauslehrer des Nero, zog sich Seneca 62 n.Chr. aus dem öffentlichen Leben zurück. Er wusste um die Schattenseiten des Lebens: als Politiker erlebte er Mord und Intrigen der politischen Elite, er verlor alles durch die Verbannung und litt seit frühester Kindheit so stark unter Asthma und chronischer Bronchitis, dass er an Suizid dachte. Schließlich beschuldigte ihn sein ehemaliger Schüler, Teil einer Verschwörung zu sein, so dass ihm die Erlaubnis zuteilwurde, es Sokrates gleich zu tun. Allerdings genoss er als Rhetoriker Privilegien, die ihn zu einem der reichsten Männer seiner Zeit machten, und dessen physische Konstitution bei der Wahl des Exilortes durchaus berücksichtigt wurde.

In seinen letzten Jahren schreibt Seneca die epistulae morales, die nicht zuletzt aufgrund der vielfältigen Erlebnisse des Autors auch heute noch an Aktualität nichts einbüßen. Neben klassischen Fragen der Philosophie was Zeit sei, metaphysischen Problemen der Hinwendung zum höchsten Gut, Rationalität und deren Vereinbarkeit mit einem Gottesbegriff, thematisiert Seneca ebenfalls Probleme des Reisens, Kritik am Körperkult und Sport, die Beeinflussung der Volksmenge, aber auch Krankheit, Schmerz und Tod, ebenso wie deren Bewältigung. Probleme des Alltags, die zeitlos sind.

Seneca hatte also in seinem Leben die Gelegenheit, nahezu alle Seiten der menschlichen Psyche zu erleben. Seine Schriften zeugen von einem scharfsinnigen Beobachter, der die Zeichen seiner Zeit durchaus zu deuten wusste. Damit legt er aber auch Zeugnis über die Ereignisse seiner Zeit ab, so dass seine Schriften für uns heute eine Quelle historischer Belege sind. Die epistulae belegen nicht nur den Umgang alltäglicher Ereignisse in Senecas Zeit, sondern ebenso Senecas Erfahrungen und Sorgen. Beim Lesen der epistulae erfährt man gleichsam Senecas Weg zum Stoiker – Zweifel, Reflexionen, Erfahrungsberichte, Leid, Begeisterung. Die Briefe erhalten damit einen kontemplativen und pädagogischen Anstrich: Indem Seneca Lucilius Ratschläge erteilt, wie dessen Leben zu bewältigen sei, bedient sich Seneca einer bestimmten Metaphorik. Als Stoiker, zumal seines Alters, artikuliert sich Seneca zwar unmittelbar Lucilius, grundsätzlich allerdings einer sehr viel größeren Leserschaft gegenüber als ‚Lehrer der Menschen’1. Senecas pädagogische Metaphorik zeugt von einer fundamentalen Leidensfähigkeit als Voraussetzung einer stoischen Ethik. Diese Annahme verdeutlicht sich im metaphorischen Gebrauch des ‚Gladiatoren’ oder ‚Athleten’, der einerseits ein Barbar oder Sklave ist und deshalb gar nicht die Voraussetzungen erfüllt, Stoiker zu werden, andererseits aber aufgrund seiner enormen Leidensfähigkeit grundsätzlich dem stoischen Ideal entspricht, den Tod zu verachten und Leid zu ertragen. Erträgt der Stoiker Leid und die Omnipräsenz des Todes intellektuell, so erträgt ein Gladiator die Mühen seines Lebens leidenschaftslos – eben apathisch. Die Leidensfähigkeit (pathos) wird zur Bedingung der Möglichkeit des stoischen Ideals der Leidenschaftslosigkeit (apathos) und somit der stoischen Ethik. Die Leidensfähigkeit des Leibes bildet die Grundlage der Erfahrungen, die aus einem Menschen einen Stoiker machen.

Kosmologische Voraussetzungen

Alles hat eine Ursache und ist durch diese Ursache determiniert. Diese Kernformel der stoischen Philosophie ist zugleich eine Diagnose der Denktraditionen ihrer Zeit. Aristoteles2 weiß zu berichten, dass die Vorsokratiker3 nach dem Ursprung oder letzten Grund aller Dinge (arché) suchten. Für Thales war es das Wasser, für Anaximander das apeiron (i.e. das immateriell Unendliche), für Demokrit kleinste Teilchen – die Atome. Demokrits Atomismus ist auch die Grundlage für Epikur, einem Zeitgenossen Zenons, dem Begründer der Stoa.
Dem Denken Epikurs und die Epikureer liegt also Demokrits Theorie der Atome als arché zugrunde. Für diesen hatten die Atome noch verschiedene Eigenschaften – rund, eckig, glatt, unregelmäßig etc. –, die, sobald sie in Verbindung treten, gemäß ihren Eigenschaften entsprechend auftreten – also als Wasser, Feuer, Mensch, oder auch Pflanze. Ebenso wie die Natur besteht für Demokrit auch die menschliche Seele aus Atomen. Sie zählt somit zu den Naturphänomenen. Stirbt ein Mensch, so verstreuen sich nach Demokrit die Seelenatome und finden sich als eine andere Seele in einer veränderten Zusammensetzung wieder. Demokrit ist somit der Begründer des atomaren Materialismus.
Epikur deutet daher ebenfalls alles Existierende als Ergebnis der Bewegung und unterschiedlichen Verteilung der Atome. Materie ist für Epikur ungeschaffen und unvergänglich. Deshalb existieren auch in einem unendlichen Raum unendlich viele Welten, die der unsrigen ähnlich sind, und unzählige Welten, die der unsrigen nicht ähnlich sind. Wurde allerdings bei Demokrit die Sinnenempfindungen noch als zweitrangig eingestuft, stellt die Wahrnehmung für Epikur das einzige Erkenntnismittel dar. Die Übereinstimmung des Wahrgenommenen mit der Wahrnehmung wird zu Wahrheitskriterium. Ich nehme also einen Baum als Baum wahr, weil er aufgrund seiner atomaren Zusammensetzung mir als Baum erscheint.
Deshalb ist Epikurs Ethik auch eine logische Ethik: die Handlungen eines Menschen sind den logischen Gesetzen verpflichtet. Das Ziel dieser Logik besteht klar in der Genese des Seelenfriedens. Gemäß dem Motto des Horaz – carpe diem – gilt es durch Vernunft Unlust zu vermeiden und Lust zu gewinnen. Allein der Weg dorthin obliegt jedem Menschen einzeln.
Für Epikur kommt es also aufgrund des Materialismus nicht darauf an, im Jenseits das Seelenheil zu finden: es geht also nicht um ein ewiges Leben. Vielmehr zielt er auf die Umsetzung seiner Vorstellungen zu Lebzeiten. Götter und Gott greifen für Epikur nicht aktiv ins Weltgeschehen ein. Furcht vor Gott ist daher auch nicht notwendig. Trotzdem sind Götter für Epikur reale Existenzen. Ebenso, wie alles andere in der Natur, sind auch Götter Zusammensetzungen von Atomen, somit Lebewesen. Götter sind deshalb für Epikur zwar unerreichbar, dennoch erkennbar: Indem sich in der Wahrnehmung eines Objektes Atome ablösen und dem wahrnehmenden Subjekt zuwenden, lassen sich – zwar nicht unmittelbar, aber – mittelbar Götter wahrnehmen. Menschen nehmen also nur Abbilder der Götter wahr.4 Zur normalen Sinneswahrnehmung ist der Bilderstrom der Götter kontinuierlich, ruft aber im Gegensatz zu einzelnen Bildern Phantasievorstellungen hervor. Phantasievorstellungen bestehen nach Epikur aus feinen Atomen, so dass die göttlichen Atome nicht mit dem Auge sichtbar sind, sondern ausschließlich mit der Seele. Die menschliche Seele fungiert hier also bereits als Medium zur Gotteswahrnehmung: Sie entspricht theologisch dem ‚Sinn fürs Übersinnliche’, also dem Sinn für Gott, und wird damit das Organ, mit dem Menschen Zugang zum originär Unzugänglichen erhalten: Gott. Was wäre die Seele aber ohne den Leib?
Die stoische Kosmologie hingegen sucht zwar auch nach einer Letztbegründung, allerdings ist dieses ein Urfeuer – der Äther –, von dem aus alles Seiende entsteht. Alle Materie5 ist durch die göttliche Vernunft (logos) beseelt. Damit ist die Philosophie der Stoa ebenso materialistisch, weil sie Materie als Grundlage allen Seins annimmt, die Theologie aber pantheistisch, weil das göttliche Prinzip den gesamten Kosmos in all seinen Bestandteilen durchwirkt und dadurch ausschließlich in diesen Bestandteilen wahrnehmbar wird.
Die Natur bildet damit die Grundlage der stoischen Philosophie. Das Naturrecht (ius naturale) wird von Grundprinzipien abgeleitet, die zum Fundament des allgemeinen Wissens werden. Daher sind die Stoiker von einer strengen Kausalität allen Geschehens überzeugt. Wahrnehmbare Ereignisse haben demzufolge eine Ursache zur Grundlage, von der aus das Geschehen nur so stattfinden kann. Ist diese Notwendigkeit nicht nachweisbar, versagt unser Erkenntnisvermögen. Somit ist auch das Schicksal eines jeden Menschen vorherbestimmt. Denn im logos liegt sowohl die Sprache als auch die Logik begründet, also die formalen Regeln unseres Sprechens als auch des Argumentierens in der Sprache, innerhalb derer unsere gedanklichen Operationen überhaupt erst zum Ausdruck gebracht werden. Die antike Rhetorik als Studium der Grammatik und Logik wird deshalb zum zentralen Ausbildungsformat der Römischen Antike.
Weil nun auch der Mensch vom göttlichen logos durchzogen ist, gilt es im Stoizismus den Geist und das Denkvermögen zu schulen. Andererseits sind der menschliche Geist und das Denkvermögen auch Instrumente, die dem Menschen ermöglichen, am göttlichen logos teilzuhaben und ihn somit zur Weisheit über das Höchste Gut als Inbegriff des Glücks (eudaimonia) zu führen. Zwar sind die Wege zur eudaimonia vielfältig: Ein jeder muss seinen Weg finden. Allerdings – und hier zeigen sich interessanterweise Parallelen zum Buddhismus – gibt es einen rechten Weg, der in einer lebenslangen Bemühung der Selbstformung und Selbsterkenntnis liegt. Es gilt, die für einen selbst richtigen Verhaltensweisen, Gewohnheiten und Einstellungen zu den Widrigkeiten des Lebens zu finden und so einzuüben, dass sie einen zur eudaimonia führen.
Dieser Weg zielt auf die bekannte ‚stoischen Ruhe’, die drei wesentliche Elemente enthält:

  • Apathie i.e. Freiheit von Leidenschaften, Leidenschaftslosigkeit
  • Autarkie i.e. Selbstgenügsamkeit
  • Ataraxie i.e. Unerschütterlichkeit

Ziel der stoischen Philosophie ist die Apathie, i.e. Affekte, wie Zorn, Furcht, Neid und Hass zurückzudrängen und zu beherrschen, bis hin zur völligen Beseitigung solcher Gemütszustände. Insofern ist die Apathie die Voraussetzung für die Ataraxie, der vollständigen Unerschütterlichkeit.
Zielen also beide Schulen – die Epikureer und die Stoa – auf den Seelenfrieden, unterscheiden sich beide darin, dass die Epikureer diesen über Vermeidung von Unlust und die Vermehrung der Lust erreichen wollen; die Stoiker hingegen suchen Seelenfrieden in der Vermeidung von Lust und Unlust.
Gibt es für die Epikureer zwar Götter, dann greifen diese aber nicht in die Welt ein, haben diese auch nicht geschaffen, befinden sich aber als ewige Lebewesen in einer Zwischenwelt (intermundium), ohne dass diese selbst in der Furch vor Göttern leben müssten. Die Stoiker hingegen spielten Gottheiten keine Rolle: Seneca berichtet in ep. 16:

Entweder hat ein Gott meine Willensentscheidung vorweggenommen oder beschlossen, was ich zu tun habe, oder der Zufall überlässt nichts meiner Entscheidung. Was immer davon stimmt, sogar wenn all das stimmt: Man muss philosophieren; ob uns nun mit unabänderlicher Vorbestimmung das Schicksal bindet, ob ein Gott als Herr des Universums alles gut eingerichtet hat oder ob der Zufall planlos ins Menschenleben eingreift und mit uns sein Spiel treibt – die Philosophie muss uns schützen!

Vom Kosmos zum Ethos

Bertrand Russell, Mathematiker, Logiker und Philosoph, Mentor Ludwig Wittgensteins in Cambridge, bemerkt in seinem Buch Philosophie des Abendlandes, das an dieser Stelle die inneren Widersprüche der stoischen Ethik und Theologie auseinandertreten:6 Ausgehend vom Urfeuer der stoischen Kosmologie, von dem aus alles Seiende entsteht und das vom göttlichen logos beseelt ist, ist das All streng determiniert, und „alles geschieht darin aufgrund vorangegangener Ursachen.“ (Russell 2010, 284) Andererseits zeigt Senecas Zitat, dass etwas Göttliches im Lebend er Menschen keine Rolle spielt. Allein die Philosophie kann die Menschheit schützen! Ist aber sämtliche Materie mit der göttlichen Vernunft beseelt, so ist es auch der Mensch. Aber – so schreibt Seneca in epist. 13 – die Stoa zielt auf die Willensautonomie des Einzelnen:

Stehe Du mir dafür ein: Sooft Dich Leute umdrängen, die Dir Dein Unglück einreden wollen, bedenke nicht, was Du hörst, sondern was Du selbst empfindest. Beurteile Deine Lage mit Festigkeit und befrage Dich selbst, der Du sie am besten kennst. (epist. 13)

Hier tritt der Widerspruch zwischen Willensfreiheit und Determinismus zutage: Der Wille des Einzelnen gilt als autonom. Niemand kann durch äußere Anlässe (sh. epist. 14, S. 75 i.e. 3 Arten von Furcht: Not, Krankheit (als natürliche Übel) und Gewalttaten i.e. Folter) zum Sündigen gezwungen werden. Also, obwohl wir dem natürlichen Determinismus unterliegen, haben wir einen freien Willen.

Russell zufolge scheint es im Stoizismus aber ein zweifaches Moralsystem zu geben (Russell 1950, 286f.): Einmal ein feines für den Stoiker, der Gutes zu tun predigt und alle irdischen Güter für wertlos hält. Ein anderes aber gilt den „Menschen ohne höhere Bildung“ (epist. 24), die Seneca zufolge durch keinerlei Unterweisung gegen Tod und Schmerz gerüstet sind. Als Politiker wusste Seneca, dass es in einem Staat auch Menschen gibt, die sich nicht für stoische Philosophen halten. Seneca legte also irdische Maßstäbe für Gut und Böse an, um entscheiden zu können, welche Pflichten er als Verwalter eines Reiches hat. Russell bemerkt, dass die staatlichen Pflichten hier über der Einstellung der Stoiker liegen, das kein Wille von äußeren Ursachen abhängig oder zu beeinflussen sei. Bertrand Russell fasst die stoische Ethik folgendermaßen zusammen:

[…] bestimmte Dinge gelten gemeinhin als Güter, das ist aber falsch: gut ist nur ein Wille, der darauf abzielt, anderen Menschen jene falschen Güter zu sichern. Diese Lehre birgt keinen logischen Widerspruch, verliert aber alle Glaubwürdigkeit, wenn wir wirklich all das, was gemeinhin als gut angesehen wird, für wertlos halten, denn in diesem Falle könnte sich der tugendhafte Wille ebensogut auf ganz andere Zwecke richten. (Russell 1950, 286)

Stoische Ethik zielt demnach auf die Unterstützung anderer, deren Rahmenbedingungen für ein tugendhaftes Leben mit zu ermöglichen. Der stoische Philosoph kann helfen, jemanden gebildet oder reich zu machen. Was er allerdings nicht kann – sondern eben nur jeder Mensch für sich selbst –, ist die Einübung in das Ethos eines tugendhaften Lebens. Nicht jeder Stoiker ist reich und gebildet (hat dafür das stoische Ethos), und nicht jeder reiche und gebildete Mensch ist ein Stoiker. Es ist eine Eigenschaft des Stoizismus, unglücklich, aber tugendhaft sein zu können.
Darin enthalten ist aber auch die Frage, worin denn die Ursache für das tugendhafte Leben besteht? Die streng deterministische Auffassung der Stoiker, dass alles eine Ursache haben muss, provoziert die Frage, ob der logos dann das tugendhafte Leben verursacht? Wäre dem so, dann wäre ein freier Wille obsolet. Die Ursache für ein tugendhaftes Verhalten also nicht eine Idee des Guten, weil eine Handlung gleichermaßen dem Guten als auch dem Bösen entspringen kann. (Russell 285) Eine sündhafte Handlung hingegen kann den Wandel in ein tugendhaftes Leben ebenfalls verursachen. Tugendhaftes Verhalten ist demnach nicht streng deterministisch, weil es sonst ausschließlich der Idee eines Guten entspringen dürfte. Sündhafte Menschen würden dann sich dann nur sündhaft verhalten. Indem der Ursprung der Welt im logos als Weltvernunft liegt, hat jeder Mensch mit seiner individuellen Seele psyché teil am logos. Da die Weltvernunft klar vernünftig ist, hat auch der Mensch die Möglichkeit vernünftig zu sein, indem er tugendhaft handelt. Allein der Leib als platonisches Erbe verdirbt den Menschen diese Maxime, indem er immer wieder Leidenschaften – pathos – unterliegt. Seneca schreibt im epist. 76, dass der Mensch nur gelobt werden kann, wenn er seinen Zweck erfüllt, für den er angeschafft wurde – so wie jeder andere Gegenstand auch. Dieser Zweck besteht in der vollen Entfaltung der Vernunft. Die Vernunft kann sich aber nur voll entfalten, indem sie gut handelt. Und das, was gut ist, erfahren wir in unserer Seele.

Jeder Gegenstand wird dafür gelobt, dass er seinen spezifischen Zweck erfüllt, für den man ihn anschafft. Demnach kommt es auch bei einem Menschen nicht darauf an, wieviel Land er unter dem Pflug hat, wie viel Geld er verleihen kann, wie viele Klienten ihm ihre Aufwartung machen, wie kostbar das Bett ist, auf dem er liegt, wie fein das Glas ist, aus dem er trinkt, sondern wie gut er ist. Er ist aber nur dann gut, wenn seine Vernunft voll entfaltet, aufgerichtet und dem Willen ihrer Natur angepasst ist. Das nennt man moralische Haltung, das ist Anstand und das einzige wirkliche Gut des Menschen. Denn weil allein die Vernunft den Menschen vollkommen macht, macht ihn allein die Vernunft vollkommen glücklich; sie aber ist das einzige Gut, durch das allein er glücklich wird. […] Wenn das Gut ausschließlich in der Seele ist, ist alles, was diese stärkt, erhebt und vergrößert, ein Gut; aber nur die moralische Haltung, macht die Seele stärker, höher und größer. Denn alles andere, das unsere Begierden erregt, drückt auch die Seele nach unten und verunsichert sie, und wenn es sie zu erheben scheint, bläst es sie auf und verspottet sie mit vielerlei Nichtigkeiten. Demnach ist nur das allein ein Gut, wodurch die Seele besser wird. (epist. 76)

In diesem Zitat zeigen sich noch einmal die Ansichten der Stoa von Seneca zusammengefasst: Der Mensch erfüllt einen spezifischen Zweck, der nicht in der Anhäufung von Gütern liegt und auch nicht von außen durch andere angeordnet werden kann. Allein im Guten besteht der Zweck des Menschen. Dieses Gute kann durch den menschlichen Willen für jeden Menschen anders aussehen. Grundsätzlich gilt es aber für jeden. Der menschliche Wille ist also autonom. Allerdings orientiert sich der autonome Wille des Einzelnen an der Natur, also am logos. Die Idee des Guten, die im logos gegeben ist, empfängt der Mensch über die Seele. Einmal empfangen, bildet das Wissen um das Gute die moralische Haltung – Ethos. Die moralische Haltung nun führt dazu, dass wir in der Lage sind, den Leidenschaften – pathos – des Leibes zu entsagen, damit unsere Seele nicht ‚nach unten gedrückt und verunsichert wird’. Obwohl also der Mensch qua seiner Seele bei Geburt Anteil am göttlichen logos hat, verfällt er dem leiblichen pathos, und muss durch Übungen zu einem ethos gelangen, das es ihm ermöglicht, in Hinsicht auf den logos zu handeln.

Dieses Paradoxon der stoischen Anthropologie hat seine Wurzeln in der Unterscheidung von Körper (physis), Seele (psyche) und Vernunft (logos). Diese Unterscheidung aber erkennt freilich der Philosoph, der sich von den Tugenden leiten lässt, den Trieben und Affekten absagt, und so allein die Vernunft als Instrument des Urteilens nutzt. Deshalb verwundert es auch nicht, dass Sokrates, Lehrer des Platon, Vorbild der Stoiker war: Sokrates lebte mit seiner Familie in Armut, weil er den Gelderwerb zugunsten der Philosophie ablehnte. Er war ein engagierter Bürger der polis, also der Stadt (Athen), in der er lebte. So kam es, dass Sokrates etwa um 416 v.u.Z. zur Volksversammlung gehörte, die den Prozess um die Seeschlacht bei den Arginusen führte, bei dem es um die Rettung Schiffbrüchiger ging, die unter Sturm fehlschlug. Sokrates erlebte dort eine tobende Menge, die sich einer vernünftigen Argumentation gegenüber verschloss und die Leidenschaften sprechen ließ. Bereits hier kommt das stoische Ideal eines Staatenbürgers zum Vorschein, der aktiv am politischen Geschehen teilnimmt, allerdings ohne den leiblichen Affekten anheim zu fallen, sondern immer den Argumenten der Vernunft zuzustimmen. Als 399 v.u.Z. Sokrates wahrscheinlich der Asebie (i.e. Gottlosigkeit) angeklagt wurde, führte er in gewohnter Manier rhetorisch brillante Untersuchungen durch. Obwohl Sokrates und seine Anhänger die Anklage zurückwiesen, wurde er zum Tode verurteilt. Auch hier wird das stoische Element der Unterordnung der stoischen Gesinnung unter die Gesetze der polis deutlich, denn Sokrates lehnte sämtliche Fluchtpläne mit der Begründung ab, dass Gesetze zu befolgen seien, weil sie sonst ihre Gültigkeit verlieren würden. Also nahm Sokrates das Urteil über seinen Tod durch den Schierlingsbecher in stoischer Ruhe an.7

Warum auch nicht? Sowohl Sokrates und Platon, als auch die Stoiker gehen davon aus, dass der Körper nur das Gefängnis der Seele ist. Lebt man sein Leben lang philosophisch, so hat man am Ende seiner Tage hoffentlich die Ruhe gefunden, dem Tod entgegenzugehen. Denn dieser bedeutet die Ablösung der Seele vom Leib, und damit den Aufstieg in die absolute Vernunft oder Gott. Dieses Problem nennt sich philosophiehistorisch das Leib-Seele-Problem und ist bis heute wesentlicher Bestandteil der Philosophie.

Sokrates, Platon und die Stoa also gingen von einem Leib-Seele-Dualismus aus, d.h. dass Leib und Seele zwei unterschiedene Substanzen sind, oder zumindest verschiedene Eigenschaften besitzen. Denn es lässt sich der Leib zwar substantiell auffassen, die Seele aber wohl kaum. Niemand hat die Seele je gesehen und doch unterscheiden wir eine seelenlose Maschine von einem beseelten Menschen. Wir reden mit Menschen nur so, wie wir reden, weil wir davon ausgehen, dass sie eine Seele haben. Hier kommt die ethische Maxime der Seele zum Vorschein: ‚Behandle deinen nächsten wie es beseeltes Wesen!’ Die Seele ist also ein theologisches Medium, indem wir Anteil am göttlichen logos haben, aber auch zum sozialen Medium, eben zwischen Geist und Leib, zwischen Ich und Du der Mitmenschen. Damit wird aus einem ‚Seelending’ ein ‚Körperding’.8 Sie wird zum Kommunikationsmittel mit anderen, die wir als beseelt wahrnehmen.
Damit wird die Seele im Leib der Affekte verortet, als Medium zwischen Wissen und Wollen, als pathische Figur des Dritten. Philipp Stoellger plädiert dafür, die Seele nicht auf den reinen Geist zu reduzieren, und damit die Seele nur als Illusion oder als Epiphänomen des Körpers zu marginalisierten. (Stoellger 2016, 147) Vielmehr ist sie der Grenzwert zwischen Leib und Geist, aber eben auch nicht ohne sie. Deshalb resümiert Stoellger auch: „Die Seele unter Verachtung des Körpers zu retten oder die Seele kraft des Körpers zu heilen, sind Zerfallserscheinungen.“ (Stoellger 2016, 149)

Eben diese Zerfallserscheinung wird m.E. bereits im Paradoxon der stoischen Philosophie deutlich: Wozu braucht es einen Leib, wenn der Mensch ohnehin Anteil am göttlichen logos qua seiner Seele hat und auch dorthin wieder strebt? Das leibliche Erlebnis – so lautet meine Hypothese – ist bereits bei Seneca die Bedingung der Möglichkeit für eine seelische Einsicht in den göttlichen logos. Oder anders formuliert: Ohne die Verleiblichung der Seele gäbe es kein Leben, und damit keine Einsicht in die Möglichkeit des göttlichen logos. Diese Hypothese verdeutlicht sich m.E. bei Seneca im Beispiel des Gladiators.

Pathos, patiens und Apathie

In epist. 13 beglückwünscht Seneca Lucilius zu dessen Mut, den er bereits vor Beginn seiner philosophischen i.e. stoischen Ausbildung unter Beweis stellte. Die Feuerprobe, so Seneca, sei, dass sich kein Wille einem fremden beugen würde – der menschliche Wille also autonom bleibt. Der Lackmustest stoischer Philosophie besteht also in einer Willensstärke, die sich nicht brechen lässt. Exemplarisch dafür ist in den epistulae der Gladiator oder Athlet:

Kein Athlet kann großes Selbstvertrauen in den Kampf mitbringen, wenn er niemals braun und blau geschlagen wurde. Der aber, der sein eigenes Blut fließen sah, dessen Zähne unter einem Fausthieb knirschten, der, als sein Gegner im ein Bein stellte und sich mit seinem ganzen Gewicht über ihn warf, hingesunken den Mut nicht sinken ließ, der, sooft er auch zu Fall kam, sich nur noch trotziger erhob, der steigt mit großer Zuversicht zum Kampf in die Arena. (epist. 13)

Seneca unterstreicht die große Leidensfähigkeit der Gladiatoren. Obwohl sie Barbaren sind, ertragen sie die Schmerzen über ihrer Schande, um Herr und Volk zu gefallen. Aber nicht nur die Leidensfähigkeit9, auch die Todesverachtung lassen den Gladiatoren zum Vorbild der stoischen Philosophie werden.

So bietet ein Gladiator, der beim Kampf der allerfeigste war, seinem Gegner die Kehle dar und lenkt das Schwert auf sich, das abzugleiten scheint. Der Tod aber, der nur nahe ist, auf jeden Fall aber kommen wird, verlangt nach einem festen, starken Geist, was recht selten und nur von einem Weisen zu leisten ist. (epist. 30)

Thomas Kroppen10 zeigt deutlich, dass die Leidensfähigkeit der Gladiatoren eine Voraussetzung für den Erfolg eines Athleten ist. Denn erfolgreich ist der Athlet, wenn er trotz aller Leiden wieder aufsteht, und dem Tod ins Angesicht schaut. Eben weil die Seele unsterblich und der Tod damit lediglich die Vernichtung des Körpers ist, erlischt mit dem Tod jede Empfindung.
Das Leid des Gladiators, stellvertretend für alle Menschen und symbolisch für alle Widrigkeiten des Lebens, ist somit ein ‚gutes Leiden’, weil der Tod kein Übel ist.11 Er ist auch nicht nur neutral, weil mit dem Verlassen des Körpers die stoische Maxime erreicht wird: der reine logos. Ebenso wie Sokrates den Schierlingsbecher austrank, so, wie die Gladiatoren sich täglich dem Überlebenskampf stellen, so soll es ein jeder Mensch gleichtun. Denn in der Verachtung des Todes verliert die Seele ihre Furcht und ermöglicht ein glückliches Leben.
Seneca gleicht in diesem Sinne einem Arzt, einem Seelenarzt, der Lucilius – und allen anderen Lesern – eine Therapie verschreibt, wie man am besten mit dem Leben umgehen soll. Der Prozess zur Bewältigung der Todesfurcht findet in drei Stufen statt12:

  • Stufe: an den Tod denken
  • Stufe: den Tod zu verachten
  • Stufe: das Sterben zu lernen

Mit diesen Schritten, die Seneca in den epistulae vollzieht, wird aus der Philosophie der Antike, die eine Universaldisziplin darstellte, eine ars vitae, eine Lebenskunst, eine Wissenschaft von der richtigen Lebensführung.13
Damit wird klar, dass das Leibliche, das Pathische nicht nur das zu Überwindende Element der stoischen Philosophie wird, sondern vielmehr die Bedingung der Möglichkeit dieser Ansicht. Das Paradoxon der stoischen Anthropologie kulminiert im ‚guten Leiden’: Denn ohne die leiblichen Affekte, die Leidenschaften, die jeder von uns nur leiblich erleben und erfahren kann, ohne Zorn, Furcht, Liebe erlebt zu haben, die uns leiblich widerfahren, wäre kein Mensch in der Lage eine ethische Gesinnung zu entwickeln, diese zu überwinden. Das Leiden ist also nicht nur gut in Hinsicht auf sein Ziel: der Vernichtung alles Leiblichen, sondern bereits in Hinsicht auf seinen Weg: dem Erleben und Erkennen von Leidenschaften. Es ist die Angst vor dem Tod, die zur conditio humana wird.
Über die Einbettung der Seele in den Leib sind die Leidenschaften aber nicht nur auf jeden einzeln beschränkt. Indem wir einen anderen Menschen wahrnehmen, setzen wir dessen Beseelung voraus. Nur deshalb begegnen wir anderen als Menschen. Das eigene Leiden ermöglicht ein Leiden mit den anderen, ein Mit-Leiden. Erst diese Leidensfähigkeit überhaupt macht uns zu Menschen und lässt uns zu anderen Menschen menschlich sein. Ohne Leib wären wir leiblose Seelen, die im Äther umhertreiben und vielleicht wie Leibniz’ Monaden miteinander nichts zu tun hätten. Da die Seele nicht materiell ist, wäre sie ohne Leib auch nicht wahrnehmbar. Die Seele ist damit die Form des menschlichen Lebens: Unsterblich kann sie nicht sein, denn sie ist Kreatur, nicht Kreator. Sie ist von dieser Welt und nicht Gott.

Fazit

Zielt die stoische Philosophie auf ein Ethos der Leidenschaftslosigkeit, so marginalisiert sie die Bedeutung des Leibes und dessen grundlegende Leidensfähigkeit als Bedingung der Möglichkeit für eine Leidenschaftslosigkeit vollständig.
Philosophiehistorisch scheint dieser Aspekt durch das platonische Erbe verständlich. Umsomehr lohnt es sich, unter aktuellen Debatten die Philosophie Senecas zu betrachten: zumindest metaphorisch führt Seneca den Gladiatoren als Paradigma der stoischen Philosophie ein und zeigt, dass dessen tägliche Leidensfähigkeit die Zuschauer stellvertretend von deren Leiden erlöst. So, wie der Gladiator täglich ums Überleben kämpft – vor allem allein durch seinen Leib –, so kann ein jeder Mensch seine Leiden ertragen und die Angst vor dem Tod verlieren. Die Voraussetzungen sind anthropologisch erfüllt. Als Mensch sind wir in der Lage, über Vernunft Anteil am göttlichen logos zu haben und damit Einblick ins Gute. Die soteriologische Funktion kommt bei Seneca noch der Philosophie zu, die als ars vitae die Grundlage für eine Anleitung zum Leben hat. Eben darin zeigt sich auch Senecas Aktualität: Das Leben lässt sich nicht einfach aufschreiben oder formulieren, so dass es von jedem verstanden wird. Es ist uns grundsätzlich unzugänglich und zeigt sich im Vollzug. Und um dieses ‚zeigen’ verstehen zu können, müssen wir mit leiden, immer wieder, immer neu. Dies gelingt nicht, indem man sich eine Theorie aneignet und diese als Schablone über die Ereignisse des Lebens stülpt. Ein solches Verstehen gelingt nur im mit-erleben, leiblich, pathisch, gemeinsam. Eine Rede darüber kann daher auch nicht starr sein, sondern muss den Kontingenzen des Lebens trotzen und vermittelnd zwischen Leib und Seele mit Bildern der Metaphorik den zu verstehenden Sinn zeigen. Und dieser Sinn zeigt vom Anderen als Anderer seinen Sinn für die Seele direkt in Affekten oder auch indirekt im Miteinander.

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