„Mobbing“ ist urplötzlich zum Schlagwort avanciert. Es geistert durch die Gazetten aller Art, in Leitartikeln, Kommentaren, Interviews, Leserzuschriften. Auslöser die Wahnsinnstat eines jungen Menschen, der geplant und zielgerichtet neun Menschen, zumeist Altersgenossen, durch Schüsse in den Tod gejagt hat. Der 18jährige Attentäter war Jahre lang, seit er in die Schule kam, „gehänselt, beleidigt, bloßgestellt, gemobbt, gequält“ worden - dadurch so gewaltsam aus der Gemeinschaft gedrängt, dass er für sich durch Namenswechsel  eine neue Identität gesucht hat. Offensichtlich auch so nicht in Ruhe gelassen, gab er den in ihm allmählich aufgestauten Hass freien Lauf. „Ich hasse alle Menschen“ schrieb er in einem Chat. In seinem Kopf entwickelte sich eine Vision des Grauens. Der Logik des Bösen entsprechend, nach der Gleiches mit Gleichem zu vergelten ist, war er auf Rache aus. Per facebook  lud  er  die einstigen Peiniger, sogar seinen Freund,  dazu ein, zu einer bestimmten Zeit, an  den Ort der geplanten Tat zu kommen. Die Art, wie er dann agierte, zeigt ihn enthemmt, von allen menschlichen Bindungen gelöst, teuflisch. Seine Aggression, sein Tötungsdrang war dabei offensichtlich nicht zum vollen Erfolg gekommen. Den Einsatz der 300 Patronen im Rucksack verhinderte die vorschnelle Selbsttötung.  

Reduziert man die motivationalen Bedingungen dieser Mordtat auf ihren Kern, so lässt sich zunächst eher oberflächlich und nur vorläufig sagen: Mobbing hat den Menschen zum Massenmörder gemacht. Da man in „Mobbing“ ein Mittel der verbalen Aggression erkennt, werden die Sprache und ihre Anwendung zum Problem. Warum? Weil durch Wort, Rede, Geschrei jemand disqualifiziert, diffamiert, ja dämonisiert wird, so dass ihn das Kollektiv ablehnt, verachtet, ausstößt. Der Betroffene fühlt sich isoliert, sieht sich in seinem Selbstwert gemindert,  seine menschliche Würde hält er für verloren. Was bei ihm psychische und in der Folge eben auch physische Reaktionen auslöst. Eine Problematik unserer modernen Zeit? In ihrer Schärfe und  im Wirkungspotential der Sprachanwendung ganz sicher. Doch die psychischen Mechanismen, die dabei in Funktion treten, sind so alt wie die Kultur der Sprache selbst, d. h. seit sprachliche Äußerung als Mittel der Beeinflussung – oft kunstvoll gestaltet – angewendet wird.

Die historischen Wurzeln

Im  europäischen Kulturraum liegen ihre Wurzeln in der Antike, in der antiken Rhetorik. Diese sollen zunächst offen gelegt werden. Der weiter ausholende historische Rückgriff wird sich vom Ende her als gerechtfertigt erweisen. Im Römischen gilt  Cicero in der Redekunst als Meister aller Klassen. „Sein Name steht nicht mehr für den eines Menschen, sondern für die Redekunst selbst“ So schon damals sein Image. In seinen Angriffsreden lassen sich Wucht und Wirkung aggressiver Rhetorik so herausarbeiten, dass man ihre allgemeine Gültigkeit von damals bis heute ohne weiteres nachvollziehen kann.

Da sind etwa die „Reden gegen Verres“, deren Erfolg ihn gleich zu Beginn seiner Karriere zum Staranwalt in der „Hauptstadt der Welt“ gemacht hat. Verres war Verwalter der Provinz Sizilien und hat in seiner Amtszeit die Insel systematisch ihrer Kunstschätze beraubt. Die Sizilier haben Cicero gebeten, den Kulturräuber vor den römischen Richtern zur Rechenschaft zu ziehen. In der zweiten Rede überfällt der Redner den Angeklagten mit einem furiosen Schwall von Anwürfen. Sein Vorgehen in Sizilien sei eine „Sucht“, eine „Krankheit“, ein „Wahnsinn“, eine „Räuberei“. Mit allem Raffinement im Einsatz rhetorischer Mittel stellt der Redner den Senatoren vor Augen, wie auf der einst kulturell blühenden Insel

nun Öde und Leere herrschen. Siziliens Kultur in allen Ausprägungen sei verloren. Von Anfang wird die Stimmungslage so aufgeheizt, dass die Zuhörer auf Distanz zu Verres gehen. Der freilich hier nicht mit Namen angeredet wird, sondern auf den der Redner nur mit dem Verachtung evozierenden Pronomen iste, etwa „dieser Halunke da“ in  einer schroffen Geste hindeutet. Der Angeklagte gerät hier schon in eine isolierte Position.

Noch mehr, als ihm anschließend in einer bewusst angelegten Steigerung seine Schandtaten vorgehalten werden: Raub an Privatpersonen, Gewalttaten gegen Gemeinden, Diebstahl bei einem hohen Staatsbesuch, Frevel am Zentral-Heiligtum der Insel, schließlich Ausplünderung der Hauptstadt Syrakus. Solches, besonders den Religionsfrevel hätten vor ihm frühere Leute, denen alle möglichen Verbrechen zuzutrauen sind, nicht getan, nicht Sklaven, Flüchtige, Barbaren, Staatsfeinde. Alle diese Negativfiguren, die das Bild menschlicher Abartigkeit in jener Zeit lieferten, seien nichts gegen Verres. Er sei schlimmer als all diese üblen Typen. Durch solche Kontrastierung wird der Mann im höchsten Maße disqualifiziert, so dass der Eindruck entsteht, er habe sich durch seine Verbrechen dem Menschengeschlecht entfremdet, er sei eine Ausgeburt von barbarischer Brutalität. Ja noch mehr: Indem er sich an der religiöse Patronin der Insel, an Ceres, der Göttin der Fruchtbarkeit,  vergriffen habe, hätten die von Schmerz erfüllten Bewohner den Eindruck, als sei Verres ein „zweiter Orkus“, er sei wie Pluto, wie Hades, der Herrscher der Unterwelt. Dieser hat einst die Tochter der Ceres, Proserpina, geraubt.  Den Unterweltherrscher  nennt man später bekanntlich „Teufel“. Der Angeklagte wird also von den Zuhörern wie „der Teufel“ in Person wahrgenommen, er wird „verteufelt“. Was Cicero hier gegen Verres betreibt, ist in der Tat „Verteufelung“, in der Sprache der modernen Rhetorik „Dämonisierung“. Nirgends wird wohl dieses seither gängige Mittel und Ziel des Redners unmittelbarer und nachhaltiger fassbar, gleichsam sinnlicher greifbar als in diesem hier vorliegenden Kontext. Mag sein, dass hier die Metapher für diese Höchstform verbaler Aggression  ihre sprachgeschichtliche  Wurzel hat.

Ciceros Deklassierung seines Gegners vor der Öffentlichkeit  ist noch nicht zu Ende. Sie strebt einem letzten Höhepunkt zu. Verres wird vor die Folie seines Vorgängers gestellt. Marcellus, der Eroberer der Insel und erster Verwalter, habe deren Hauptstadt Syrakus eher geschont, er habe Menschlichkeit gezeigt, indem er nur das aus Sizilien nach Rom transportieren ließ, was einem Sieger zusteht. Er habe sich kaum an den Kulturwerten, keineswegs an den Heiligtümer vergriffen, so dass den Bewohnern Halt und Grundlage ihrer religiösen Existenz 

erhalten blieb. Emotional erregend das Bild,  das Cicero von diesem großartigen Beamten Marcellus vor den Richtern entwirft. Dann ruft er lautstark über das Forum:

 

„Vergleicht damit Verres! Nicht um einen Menschen mit einem Menschen

zu vergleichen, damit einem solchen Mann nicht nach seinem Tod noch ein  

Unrecht widerfährt!“ 

(Verres II 4, 20)

 

Diese Kontrastierung mit Marcellus lässt den Angeklagten als Unmenschen erscheinen, er ist ein räuberischer Barbar. Ja noch mehr: Verres wird hier von der zivilisierten Menschheit ausgegrenzt, er ist überhaupt kein Mensch. Was hier geschieht, ist die „Entmenschung“ einer Person. Darauf hat es Cicero angelegt. Darin kulminiert seit rhetorische Taktik.  Welcher psychische Steuerungsmechanismus liegt dieser  Taktik zugrunde? Die Rede zielt von Anfang an auf die Isolierung des Inkriminierten. Dieser wird so charakterisiert, so  mit Argumenten und Vorwürfen angegriffen, dass sich Stück für Stück automatisch zwischen ihm und dem Rest der Beteiligten eine Kluft auftut. Mit allen Mitteln wird die Solidarität der Gruppe gegen den Einen, den Schurken, den Barbaren, den Verbrecher, den Gottlosen, den Feind geradezu erzwungen.

Dieser Zwang stellt sich unausweichlich in der Psyche der Hörer ein; indem der Angegriffene vom ersten Satz an mit forcierter Steigerung und mit zunehmender Emotionalisierung als Negativgestalt den anderen vor Augen geführt wird. Durch Beweise, durch Charakterangaben, durch entlarvende Vergleiche   werden diese auf Distanz zu ihm gedrängt, gegen ihn aufgebracht, aufgehetzt. Diskreditierung, Dämonisierung erzeugen in der Psyche der Beteiligten eine zwangsläufige Reaktion: Um nicht mit dem Verbrecher gleich gestellt, ja nicht einmal als dessen Sympathisant angesehen zu werden, schließt man sich zu einer Gesinnungsgemeinschaft um den Redner zusammen, so dass jener allein da steht oder sitzt, letztlich völlig isoliert ist. Die moderne Rhetorik nennt diese Taktik den Aufbau einer Bipolarität, d. h. der Redner stellt bewusst und zielstrebig – als durchgängiges Prinzip – ein Spannungsverhältnis, zwischen zwei Positionen her, hier im Falle des Verres sieht diese Bipolarität so aus:

Hier: Dort:
wir, die Zivilisierten und Menschenfreunde  Verres, dieser Barbar und Unmensch da

Der Redner manövriert die Zuhörer (vor allem die Senatoren) in eine Rolle, von der sie nicht mehr ohne Imageverlust oder Existenzschaden loskommen. Wer will schon als Unmensch, unzivilisierter Barbar gelten! Alle stehen deshalb fest auf der Seite des Anklägers. Die einmal erreichte Einstellung ist irreversibel. Man nennt die dafür angewandte Taktik heute „psychologische Rollenfixierung“. Die Kunst, die sich hier manifestiert,  hieß in der Antike „Psychagogie“. 

Cicero hat die gleiche Taktik auch in seinen „Angriffsreden“ gegen L. Sergius Catilina und gegen Marcus Antonius eingesetzt. Den einen hat er als „höchst grausamen Staatsfeind“ dämonisiert, den anderen als  „als unmenschliche, ekelhafte Bestie“ Der Schauplatz war bei Catilina  Rom, innerhalb und außerhalb der Kurie, bei Antonius das Imperium Romanum. In beiden Fällen  herrschte kriegsähnlicher Zustand. Catilina war drauf und dran, mit seiner Verschwörer-Bande den Konsul zu ermorden. Antonius drang mit seinen Truppen gegen Rom vor, um der Republik ein Ende zu machen. Cicero setzte dagegen seine Reden, jeweils mit dem Ziel, die  Gegner Catilina und Antonius (wie ehedem Verres) von der Gruppe der angesprochenen Hörer (Senat und Volk) zu isolieren, diese Gruppe durch Solidarität  auf ihre Rolle  irreversibel zu fixieren, und zwar so,  dass sie im Angegriffenen den Feind ihrer eigenen Interessen sah. Der Redner schuf sich dafür ein „Feindbild“, das zwangläufig zur Solidarisierung führt und keinen Raum für Rücksicht mit dem Angegriffenen zuließ. Dieser war dämonisiert, verteufelt. 

Cicero erkennt in solch rhetorischer Taktik die Meisterleistung eines Redners. Diese Gabe zähle zu den Vorzügen des mit Verstand und Sprache ausgestatteten Menschen. In der Verwirklichung dieser Idee war der Redner Cicero nicht zimperlich. Er schlug unerbittlich mit der Waffe seiner Sprachgewalt zu. Schon die Antike kannte diesen martialischen Vergleich: 

 

 „Nicht nur jene leisten für unser Imperium Kriegsdienste, die sich auf Schwerter, Schilde und Brustpanzer verlassen, sondern auch die Anwälte (also die Redner)

(Cod. Iust. De advoc. div.iud.2,7).

 

Hatte  die „militante“ Taktik der “Seelenführung”, die Cicero einsetzte, Erfolg? Verres hat, dämonisiert wie er war, ohne alle Aussicht auf eine erfolgreiche Verteidigung schon vor Ende des Prozesses Rom verlassen, ist dann in der Verbannung politisch bedeutungslos geworden. Seine Karriere war zerstört. Sein Leben verschwand im Dunkel der Geschichte. Catilina, noch mehr verteufelt als Verres,  verließ fluchtartig Rom, stürzte sich als Anführer seiner Truppen in den Verzweiflungskampf mit dem republikanischen Heer. Er fiel im Kampf nahe der Hauptstadt. Antonius, gegen den Cicero alle nur möglichen Register der Verteufelung zog, war in einer ganz anderen politischen Position. Die Senatoren, die ihn als  Richter hätten verurteilen können, gab es nicht mehr. Antonius und Octavianus, der spätere Kaiser Augustus, hatten, auf eine Monarchie zusteuernd, alle Republikaner aus Rom verjagt oder brutal ermorden lassen, auch deren prominentesten Vertreter Cicero, der am Ende furchtlos für seinen „Freistaat“ (res publica) sein Leben hergab. Auf der Flucht aus Rom in Richtung Süden wurde er von den Schergen, zumal des Antonius, eingeholt, auf der Stelle grausam hingerichtet; bereitwillig hielt er  zurückgebeugt  seinen Kopf zur Enthauptung hin. Diesen und seine Hände stellten die Mörder  am Forum Romanum auf der Rostra zur Schau. Antonius, der Verteufelte,  nahm grässliche Rache; er wurde  zum Teufel.

Rhetorik als „Kunst der verbalen Aggression“ heute

Cicero setzte seine Redekunst als Taktik der verbalen Aggression für die gute „Sache der Öffentlichkeit“, für die res publica, also die Republik ein. Natürlich erfolgte damals solche Sprachanwendung auch für üble Zwecke, zur „Meinungs- und Willenssteuerung“ des Volkes gegen unliebsame Politiker, gegen Parteien, Gemeinden, Völker,  was nicht selten zu Aufstand und Krieg führte. Schauplatz für derartige „(Ver-)Führung des Volkes,  „Demagogie“ war Rom und viel früher sein griechisches Pendant Athen, die Hochburg der ersten Demokratie. Gestalten wie Publius Clodius Pulcher, Ciceros Todfeind, bei den Römern und Alkibiades, avantgardistischer Star auf Athens politischer Bühne, bei den Griechen dürften in der Neuzeit zum Modell aller schillernden Demagogen geworden sein. Ihr Metier zielte und zielt auf Volksverhetzung und Propaganda.

Im 20. Jahrhundert fand die antike Rhetorik in beiden Richtungen ihrer „Machtentfaltung“ herausragende Vertreter. Englands Premierminister Winston Churchill mit seiner „Blut-Schweiß-und-Tränenrede“ von 1940 „steuerte“ seine Landsleute in einen alle Opfer fordernden Verteidigungskrieg für Britanniens res publica. Das Gegenmodell lieferte Deutschlands Reichspropagandaminister Josef Goebels 1943, der mit seiner „Sportpalastrede“, dem „Paradebeispiel der Rhetorik und Propaganda der NS-Zeit“  die Masse der Hörer zum „totalen Krieg“ gegen die ganze Welt aufhetzte. 

Nach den beiden Weltkriegen ist die „große“ Rhetorik aus den Parlamenten verschwunden – von wenigen Ausnahmen abgesehen. Allenfalls in den Wahlkämpfen  erlebt man sie noch. Walter Jens, seit 1963 der Rhetorikprofessor schlechthin, traf das bislang nicht widerlegte Urteil, dass sich heute „das Wort als Waffe“ im Stile der Antike nicht mehr auf den Rednerbühnen, sondern in den Medien präsentiere, vor allem in den gedruckten. Nachfahre der antiken Rhetorik sei die moderne Journalistik. Darin zeigt die „verbale Aggression“ ihre Macht, oft auch ihre teuflische Gewalt. Sie richtet sich gegen Gruppen oder Einzelpersonen. Die Strategie im Einsatz der „Absicht und Willen steuernden Mittel“ ist  zweifellos der antiken Rhetorik nachgestaltet, zusätzlich heute unterstützt durch die drucktechnische Gestaltung des Wortes und durch den Einsatz des Bildes.

Heinrich Böll, Nobelpreisträger für Literatur, hat in einer „Streitschrift“ mit dem sprechenden Titel  „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ die Gefährlichkeit solch „verbaler Aggres-sion“, zumal in der Boulevardpresse, drastisch in Szene gesetzt. Der Literat sieht   sich veranlasst, die stete Bedrohung der Würde des Menschen durch die „mit Verlogenheit vollgesogene“ und   „die Wahrheit in den Dreck ziehende  Zeitung“ an den Pranger zu stellen. Der dramatisierte Fall ist erfunden, in ihm spiegelt sich jedoch eine sich wiederholende reale Praxis wider.

Katharina Blum, ein junges Mädchen, unpolitisch, aber ehrgeizig, sich aus eigener Kraft im Leben hochzuarbeiten, verliebt sich in einen jungen Mann, der ihr gefällt. Dieser ist jedoch ein von der Polizei  gesuchter, straffällig gewordener Mensch, ein „Straftäter“. Katharina, ein einfaches Mädchen, hilft ihm, als die Polizei anrückt,  aus ihrer Wohnung zu fliehen und in einem Versteck unterzutauchen, wozu sie den Schlüssel von einem früheren älteren Verehrer einmal erhalten hat.  Das Mädchen macht sich aus Liebe auch selbst strafbar. Dadurch verliert es seine moralische Unschuld, auch seine Ehre und Würde. Es gerät in die Fänge der Polizei und in die der sensationslüsternen Presse, die beide zusammen spielen. Katharina Blum wird kompromittiert durch Verdächtigungen und Verleumdungen, durch immer neue fette Schlagzeilen auf der Titelseite und durch Bilder, die sie in verfänglichen Situationen zeigen. Den Lesern werden Schlag auf Schlag Verdachtsmomente als pure Wahrheit suggeriert.  

Dadurch wird das Mädchen mehr und mehr gesellschaftlich isoliert und in der Öffentlichkeit disqualifiziert. Katharina bekommt dies zu spüren in einer Flut von obszönen, hasserfüllten anonymen Anrufen und Briefen. Der investigative Reporter der Zeitung, unablässig nach brauchbarem Material für seine Berichte gierend, rückt schließlich sogar der schwerkranken Mutter des Mädchens im Krankenhaus auf den Leib, woraufhin diese aufgrund des Schockes  stirbt. Als Katharina am Tag darauf  ebendieses Krankenhaus als Bild mit Balkenüberschrift auf der Titelseite der Zeitung sieht, versetzt ihr diese dicke Zeile den letzten Schlag. Dadurch „fix und fertig gemacht“ (so Böll im Nachwort), fasst sie einen Entschluss. Sie lädt den Reporter in ihre Wohnung ein, wo sie ihm ein Exklusivinterview in Aussicht stellt. Der kommt, nähert sich ihr im Wohnzimmer  süffisant lächelnd und sie sogleich sexuell anmachend. Sie hebt die Rechte, ihre Hand umgreift einen Revolver, sie zielt und feuert vier Schüsse auf den Mann, der überrascht die Augen aufreißt und tot auf den Boden sinkt. Eine „Verzweiflungstat“, über die sie keine Reue empfindet. Dann stellt sie sich der Polizei. 

Das Psycho-Dreieck der aggressiven Rhetorik, das in Ciceros  Verres-Rede fassbar geworden ist, tritt auch hier klar zu tage. Die durch  ihren Reporter agierende Zeitung in Solidarität mit den manipulierten Lesern gegen die verdächtigte Person. Die Leser werden durch die massive, unablässige verbale Aggression so in ihrer Rolle fixiert, dass der Inkriminierten keine Chance zu einer Rechtfertigung oder Rehabilitation mehr bleibt. Die „zerstörerische, verlogene Überschnauze“ (Böll) der Sensationspresse hat ihrem Leben den sinngebenden Grund entzogen. Die aggressiv Angegangene ist „entmenscht“, ihrer Ehre und ihrer Würde als Mensch beraubt. Sie ist dämonisiert. Durch den Mord erreicht sie – in eigener Regie – öffentliche Aufmerksamkeit Die Verteufelte wird zum Teufel. „Sprache ist eine Waffe, ist Kapital, ein tödliches Stück Eigentum.“ So äußerte sich ein „Künstler“ solch „verbaler Aggression“. 

Ihre tödliche Sprengkraft entlädt heute, wie gesagt, die aggressive Rhetorik – zumindest innerhalb der demokratisch regierten Staaten – nicht mehr auf den großen Bühnen der Welt, allenfalls in den Hetzreden extrem staatsfeindlicher Ideologen, ob sie nun mündlich oder schriftlich propagiert werden. Hetze ist die übelste Form sprachlicher Gewalt. Hier wird sie, so die Erkenntnis der Soziologie, zu einer hoch effektiven psychologischen Waffe. Sie ziele darauf, Wut zu erzeugen, Hass gegen Personen oder Gruppen zu schüren, sie zu diffamieren oder zu dämonisieren. Das schauerlichste Exemplar einer Hetzschrift ist nach wie vor Hitlers „Mein Kampf“, neuerdings wieder in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt, ein ausgewiesenes „Konvolut der Unmenschlichkeit“ (Andreas Wirsching), ein verbales Produkt, dessen bösartige Sprache allein schon „eine Verrohung der Menschlichkeit“ signalisiert. Nachahmungstäter davon gibt es heute mehr als genug. Im Volk grassieren Erzeugnisse von Hetzpropaganda, sie sind die Waffe radikaler Gruppen an den Rändern der Gesellschaft.

Die Gewalt der verbalen Aggression hat seit Langem eine neue Plattform gefunden, auf der im Nu die Hetztiraden „unters Volk gebracht“, propagiert werden: in den Vernetzungssystemen der digitalen Medien. In dieser „Welt hinter der Welt“ hat sich der Macht des Wortes ein bislang nirgends so weites, geradezu globales Wirkungsfeld eröffnet. Die Gewalttätigkeit der Sprache ist hier umso gefährlicher, je weniger die Ordnungskräfte des Staates darauf Zugriff bekommen. In dieser „Hinterwelt“ oder „Schattenwelt“ der digitalen Kommunikation, on-line, wie man sagt, kommen alle Formen der verbalen Aggression zum Einsatz. Und sie richten sich gegen Gruppen und Einzelpersonen, auch ganz junge, die im schlimmsten Falle – nach dem Muster der aggressiven Rhetorik – diffamiert, isoliert, zuweilen sogar so „effektiv“ dämonisiert werden, dass Verzweiflung sie zu tödlichen Aktionen oder Reaktionen zwingt. „Hasssprache erhöht die Bereitschaft, selbst gewaltbereit zu sein.“ So das Ergebnis einer psychotherapeutischen Studie der Uni-Klinik Freiburg (2016).   Längst weiß man, dass Mobbing als Psychoterror die heute am weitesten verbreitete Art sprachlicher Gewaltanwendung ist.

Mobbing erweist sich als einer der gefährlichsten Modi der verbalen Aggression. Warum? Weil es verdeckt und kaum fassbar in den Räumen von Schulen, Büros oder Werkhallen geschieht. Oder noch mehr, weil in der schier unendlichen Weite der digitalen Welt, die sich gerade den jungen Leuten mehr und mehr als ihr primärer Lebensraum aufdrängt, sein gefährliches, manchmal tödliches Aggressionspotential gar nicht oder kaum kontrollierbar zur Wirkung kommt. Wie vermutlich beim Attentat in München geschehen. „Wenn Mobbing in die Katastrophe mündet“, so lautete dazu die Schlagzeile in einer der seriösen Zeitungen Bayerns. Darin steht unausgesprochen die Erkenntnis: Der gemobbte junge Mann griff, gewiss an sich schon psychisch labil, am Trauma „seiner gescheiterten Existenz“, wie man annimmt, zerbrochen, kalt und skrupellos zur Pistole, und nahm auf einer ausgesuchten „Schaubühne“ hasserfüllt Rache an meist gleichaltrigen Menschen, die stellvertretend für seine Peiniger starben. Der Verteufelte wurde zum Teufel.

Sprache steht da in der Tat in Diensten des Teufels. Ein Verbrechen, durch nichts zu rechtfertigen! Der Vater des Mörders, am Verlust des eigenen Sohnes leidend, ringt um Verzeihung bei den Betroffenen, wenn er sich so an sie wendet „Unser Leid und Schmerz sind unendlich und kaum auszuhalten.“ Und er bittet um Verständnis: Sein Sohn sei in der Schule schon ab 2012 „von einer Gruppe endlos gemobbt und wie ein privater Sklave behandelt“ worden. Seine Beschwerde an die Schulleitung habe leider zu keiner Reaktion geführt. Die Frage drängt sich hier mit aller Macht auf: Was ist dagegen letztendlich zu tun? Die Bildungspolitik weist den Widerstand gegen solches Verhalten als „originäre Aufgabe“ den Eltern zu. Von ihrer Seite würden Schulpsychologen dafür zur Verfügung gestellt. Doch ist dies genug? Die kernhafte Konsequenz kann doch nur sein: Eine solche „psychagogische“ Sprachanwendung ist zu thematisieren. Die Ursachen von Mobbing sind in ihrer Tiefe zu ergründen. Die psychischen Mechanismen, die bei einer solch fatalen Form der verbalen Aggression am Werke sind, müssen analysiert und offengelegt werden, auch und gerade eben mit den jungen Menschen – in und außerhalb der Schule. Alle sollten sich hier in die Pflicht genommen sehen. Ohne Zweifel eine neue, noch nie in solcher Brisanz sich stellende Herausforderung an die Pädagogik, überhaupt an die Gesellschaft. Ihr sollten sich am Gymnasium Fächer wie Latein, Deutsch, Geschichte, auch Ethik stellen, etwa in einem fächerübergreifenden Unterrichtsprojekt. Der Lateinlehrer wäre dabei, wie gezeigt,  der natürliche Protagonist.

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