Gegenstände und Themen aus dem Bereich der antiken Literatur werden häufig als fremdartig empfunden. In der Tat erscheint ihre aktuelle Relevanz nicht unmittelbar greifbar. Und gerade die vielfältigen Brennpunkte der Gegenwart scheinen uns dazu aufzufordern, den zentralen Fragen und Problemen mit modernen Lösungsansätzen zu begegnen. 

Die altsprachliche Fachdidaktik fragt nach dem jeweils relevanten Bildungswert eines Gegenstandes, ohne den Blick auf die unmittelbare Aktualität einzuengen. Dabei erfolgt in der Regel ein Umformungsprozess, der auch mit einer Reduktion auf das Wesentliche verbunden sein kann. Grundfragen der menschlichen Existenz sind überzeitlich, Denkmodelle ermöglichen eine Auseinandersetzung mit anthropologischen Grundkonstanten, und der existenzielle Transfer zielt darauf, Sachverhalte aus dem Bereich der griechisch-römischen Antike mit analogen modernen Fragen der Zeit zu vergleichen. In allen Fällen ist die Betrachtung des Typischen, des Modellhaften und Exemplarischen zwar nicht an den Einzelfall gebunden, sie lässt aber doch den Kern eines Gegenstandes erkennen und macht den Weg für die notwendige kritische Distanz frei. 

So hat der Altphilologe Wolfgang Schadewaldt bereits in den 60er Jahren eine Diskussion angestoßen, die als theoretische Grundlegung eines modernen Konzepts für die klassischen Sprachen verstanden werden kann. Ihm zu Ehren hat die Philologin Annrose Niem ihr jüngst erschienenes Büchlein „Quakerich eilte zu Hilfe – Der pseudohomerische Frosch-Mäuse-Krieg“ (2016) gewidmet. Dabei gibt die Verfasserin zunächst ganz im klassischen Darstellungsstil einen knappen Überblick über das Werk. 

Eine literaturgeschichtliche Einordnung erfolgt im weiteren Verlauf ebenfalls sachgerecht und überzeugend. Eine Herausforderung ist dann der Versuch, die beiden homerischen Epen vorzustellen, ohne dabei die amüsante Kompositionstechnik des hellenistischen Epyllions zu übergehen. Durch eine geschickte Auswahl zentraler Textstellen vermag es hier die Verfasserin, den Leser mit der Textgattung der antiken Parodie vertraut zu machen; dabei wird der Handlungsstrang der Geschichte deutlich und ein Bezug zur homerischen Vorlage sichtbar. Im Ganzen gelingt auf diese Weise eine gut lesbare und unterhaltsame Einführung in ein Werk, das lange Zeit im griechischen Lektüreunterricht einen festen Platz eingenommen hat. 

Einen lebendigen Zugang zur Welt der Antike eröffnet Annrose Niem in ihrem Büchlein über das Orakel von Delphi. Sie schildert, wie sie als junge Studentin im Rahmen eines geführten Rundgangs die Orakelstätte wahrgenommen hat. Dabei erlebt sie, welche Wirkung von einer unmittelbaren Begegnung mit den Überresten der Altertümer ausgehen kann, die umso größer ist, wenn man sich die ehemalige Bedeutung des Ortes vor Augen hält. So führt die Autorin in die Geschichte des Orakels von Delphi ein, wählt dabei gezielt und begründet aus, berichtet Mythisches und Historisches und gibt Einblicke in die Grabungsgeschichte. Am Beispiel der Erzählung Herodots über den Lyderkönig Kroisos wird die zentrale Rolle des delphischen Orakels sichtbar. 

Dabei werden existenzielle Grundfragen aufgeworfen: die Suche nach dem Glück des Menschen, der Selbsterkenntnis, die Frage nach der Willens- und Entscheidungsfreiheit, nach Schuld und Sühne und nach tragfähigen Lösungen für Wertekonflikte. Annrose Niem bietet mit ihrer Schrift „Hat das Delphische Orakel den Lyderkönig Krösus falsch beraten?“ einen anregenden Zugang zu einem Text, der gerade für Heranwachsende persönlichkeitsbildenden Wert hat.

Unter diesem Gesichtspunkt  lassen sich auch zwei weitere Publikationen der Autorin lesen. Unter dem Titel „Gerechtigkeit unter der Lupe – Was wir in Platons ‚Staat‘ über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit erfahren“ stellt die Verfasserin das Zentralwerk Platons vor und problematisiert zu Recht den in unserer Zeit häufig unreflektiert verwendeten Begriff „Gerechtigkeit“. In sehr ansprechender Weise stellt sie die Gesprächssituation in der Politeia dar und erläutert dabei den Zusammenhang zwischen dem Staatsmodell und dem Aufbau der menschlichen Seele nach den Vorstellungen Platons. So entsteht ein anschauliches Wechselverhältnis zwischen Makro– und Mikrokosmos. Auch hier versäumt es die Autorin nicht, Themen aufzunehmen, die für Platon hohe Relevanz besaßen: Fragen der Erziehung, der Emanzipation oder auch das Recht auf eine freie und individuelle Lebensform im Gegensatz zur Zwangsnormierung zugunsten eines vermeintlich idealen Staates. In einem Abschnitt widmet sich die Autorin - ausgehend von Platons Philosophenkönigen - der Frage nach den Qualitäten eines guten Politikers. Die gesellschaftspolitische Relevanz ist offensichtlich. 

Auch in ihrer Schrift „Weiß auch ich, dass ich nichts weiß? – Gedanken zu Sokrates und Platon“ setzt sich Annrose Niem mit den Fundamenten der humanistischen Bildung auseinander: Die ethische Orientierung ist nicht zuletzt auf die Gestalt des Sokrates in der Überlieferung Platons zurückzuführen. In der Absicht, einen Eindruck von Sokrates zu vermitteln, wendet sich die Verfasserin insbesondere der Apologie Platons zu und veranschaulicht beispielhaft, wie Sokrates trotz Verleumdung, Anklage und Todesurteil seine Haltung und Würde bewahren konnte. Perspektive und Distanz bleiben in der überwiegend sachlichen Darstellung gewahrt, Begriffsinhalte der humanitas werden beispielhaft geklärt und ermöglichen einen sachgerechten Transfer.

In allen vier Publikationen gelingt es Annrose Niem, nicht nur ein literarisch interessiertes Publikum anzusprechen. Trotz der Darstellungsbreite und der thematischen Vielfalt bleibt der jeweilige zentrale Leitgedanke erhalten. An den Leser werden in unterhaltsamer Weise überzeitlich gültige Themen herangetragen. 

In didaktischer Hinsicht geben die vier Publikationen wertvolle Anregungen, um die überzeitliche Relevanz der zugrunde gelegten Texte begreifbar zu machen. Insofern eignen sich die Schriften für den kulturhistorisch Interessierten in seinen Mußestunden ebenso wie für den Unterrichtenden im Berufsalltag, der komplexe und sinnträchtige Originaltexte in die Lebenswelt der Heranwachsenden zu rücken sucht. 

Erschienen sind alle vier Schriften beim Verlag BoD – Books on Demand, Norderstedt. Auch Ausgaben für digitale Lesegeräte können erworben werden. 

 

ISBN:  978-3-8482-5785-0:  Weiß auch ich, dass ich nichts weiß? – Gedanken zu Sokrates und Platon  (2013)

 

ISBN:  978-3- 7322- 8403-0: Gerechtigkeit unter der Lupe – Was wir in Platons “Staat” über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit erfahren (2014)

 

ISBN: 978 – 3- 7347 - 6057 -0:   Hat das Delphische Orakel den Lyderkönig Krösus falsch beraten? (2015)

 

ISBN: 978-3- 7392- 3067-2:  Quakerich eilte zu Hilfe – Der pseudohomerische Frosch-Mäuse-Krieg (2016) 

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