Frau Bürgermeisterin, meine Damen und Herren,

„Gib mir einen Punkt, und ich hebe die Welt aus den Angeln“, so – oder doch so ähnlich – sprach vor über 2000 Jahren Archimedes. Der Syrakusaner war Mathematiker und Ingenieur, aber als solcher doch Philosoph genug, um die ideengeschichtliche Sprengkraft seines für die Mechanik formulierten Satzes begreifen zu können. Die Welt nicht so zu nehmen, wie sie ist, sie aus den Angeln heben zu wollen ist seit eh und je das Privileg junger Leute, von Alexander dem Großen bis zu Rudi Dutschke und darüber hinaus.

„Gib mir einen Punkt.“ Wo findet man ihn? Sicher nicht in der Selfie-Autoreferentialität, im Narzissmus der ewigen Selbstbespiegelung in den Echoräumen der sozialen Medien. Das Besondere am archimedischen Punkt liegt ja gerade darin, dass er außerhalb der „Welt“ und damit der eigenen Erfahrungsebene liegt. Sucht man nach einer solchen intellektuellen Landschaft, dann muss man zu neuen Ufern aufbrechen, das Bekannte hinter sich und sich auf das Fremde einlassen. Die klassische Antike der Griechen und Römer sei „das nächste Fremde“, befand Uvo Hölscher. Dass sie uns fremd, fremd geworden ist, daran kann kein Zweifel bestehen, aber wie nahe ist sie uns noch?

Studenten jedenfalls, die nicht nur keine Ahnung haben, was sich hinter einer Ilias oder Odyssee verbirgt, sondern denen jedes dieser Wörter nur mit viel Mühe über die Lippen kommt, ist sie offenbar an der Schule niemals nahegebracht worden. Wer nicht weiß, wer Perikles war oder Hypatia oder Gregor von Nyssa, ist sich keines Defizits bewusst. Dabei ist die Antike als nächstes Fremdes ein geradezu perfekt ausgestattetes und noch dazu preiswertes Laboratorium (preiswerter als ein Nano-Labor), um vermeintliche Gewissheiten experimentell auf die Probe zu stellen. Wer sich mit den Griechen auf ihre abenteuerliche Reise zu fremden Stränden begibt, versteht, wie Menschen auf die Idee kommen konnten, dass Gesellschaft, Recht und Institutionen Dinge sind, die sie selbst als Bürger gestalten können und nicht als vorgefertigt akzeptieren müssen.

„What have the Romans ever done for us?“ Sie haben uns gezeigt, dass die Integration des Anderen keine Herausforderung ist, vor der nur moderne, globalisierte Gesellschaften stehen; vielleicht aber auch, dass eine imperiale Militärdiktatur sie besser bewältigt als eine pluralistische Republik. Die Antike ist eine Schatzkiste voller Idealtypen, dazu der abgeschlossene Zyklus einer eigenen Geschichte, der evident macht, dass Verflechtung, Globalisierung und das Wachsen von Wohlstand wie Komplexität keine unumkehrbaren Trends sind, die bis an das Ende aller Tage anhalten müssen.

Aus den Idealtypen, das lehrt Max Weber, kann man den archimedischen Punkt bauen, mit dem sich die moderne Welt nicht nur erklären und kritisch begreifen, sondern auch verändern lässt. Wer ihn kennt, ist immun gegen die hohle Phrase von der „Alternativlosigkeit“ politischen Handelns; immun auch gegen die Rhetorik, die Hyperkomplexität des Faktischen sei nichts als die sinistre Machination vermeintlicher Lügenpresse. Wenn vom „Entrümpeln“ der Lehrpläne die Rede ist, sollten die Alarmglocken schrillen. Was da über Bord geworfen werden soll, ist das, was uns die schier endlosen Möglichkeiten der condicio humana bewusst macht: gefährliches Wissen, das brisant und potentiell subversiv ist. Den archimedischen Punkt, der sie die Welt aus den Angeln heben lässt, geben jeden Tag Sie mit zwei wunderbaren, höchstlebendigen Sprachen den jungen Leuten. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, im Namen der Abteilung Alte Geschichte und der Karl-Wilhelm-Heyse-Gesellschaft, eine erfolgreiche Tagung.


Michael Sommer

Prof. Dr. Michael Sommer (* 1970) hat an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg den Lehrstuhl für Alte Geschichte inne und ist Vorsitzender der Karl-Wilhelm-Heyse-Gesellschaft (Oldenburger Freunde der Antike). Die KWHG ist nach dem in Oldenburg geborenen Altphilologen und Sprachwissenschaftler Karl Wilhelm Heyse (1797–1855, u. a. Hauslehrer der Familie Mendelssohn Bartholdy und Professor an der Berliner Universität) benannt und stellt das Bindeglied zwischen der althistorischen Abteilung des Instituts für Geschichte, den Gymnasien der Region und der Öffentlichkeit dar. Sie hat das Ziel, das Wissen um die Sprache, Kultur, Geschichte, Literatur und Kunst der Antike zu fördern und einem interessierten Publikum nahezubringen.

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