Das Ovid-Bimillennium 2017 brachte es zwangsläufig mit sich, dass die Frage nach den Gründen für die Verbannung um 8/9 n. Chr. erneut gestellt wurde. Aber auch 2000 Jahre nach dem Tod des Dichters können wir nicht mehr sagen, als er selbst in seinen Äußerungen zum Thema verrät. Das ist, soweit es den error (Trist. 2,207) betrifft, unbefriedigend. Und die lange Verteidigung der Ars amatoria, mit der Ovid sich gesetzwidrig als doctor adulterii (Trist. 2,212) betätigt haben soll, weckt den Verdacht, dass sie von dem error ablenken will, weil dieser mit Rücksicht auf Augustus nicht anzusprechen war. Das schließt aber nicht aus, dass die respektlosen Anspielungen auf die lex Iulia de adulteriis coercendis und die lex Iulia de maritandis ordinibus, welche die Liebeskunst eindeutig enthält – Wilfried Stroh hat das in einem klassischen Aufsatz überzeugend gezeigt (Gymnasium 86, 1979, 323–352) –, Anstoß erregten und dem Princeps deshalb auf jeden Fall als Vorwand für die Bestrafung Ovids dienen konnten. Gewiss, das Lehrgedicht war in den immerhin rund acht Jahren von der Publikation bis zur relegatio seines Autors offenbar unbeanstandet geblieben. Aber schon im Erstlingswerk, den Amores, die bald nach 16 v. Chr. erschienen – ich gehe davon aus, dass der uns vorliegende Text die einzige „Auflage“ ist und nicht eine „zweite“ aus der Zeit um Christi Geburt –, finden sich Passagen, die man ganz allgemein als Spiel mit der augusteischen Ideologie lesen kann, sowie solche, in denen die Ehegesetze den Hintergrund für frivole Späße liefern. Also konnte etwa ein Vierteljahrhundert später die römische Öffentlichkeit, welche die politischen Ursachen für Ovids Exilierung nicht kannte und ja zweifellos auch nicht kennen sollte, durchaus annehmen, dass „das Maß voll“ war und der Dichter vom Kaiser als „Lehrer des Ehebruchs“ ins Exil geschickt wurde. Ob Augustus allerdings wirklich den lusor tenerorum amorum (Trist. 3,3,73) als solchen für verbannungswürdig erachtete, werden wir vermutlich nie erfahren. Ich möchte mich also, wenn ich in meinen Ausführungen ausgewählte Abschnitte der Amores mit Blick auf das augusteische Rom betrachte, jeder Wertung der Texte enthalten, wie sie vonseiten des Princeps hätte erfolgen können.

     Das erste Gedicht der Amores evoziert bekanntlich mit den ersten drei Worten (Arma gravi numero) die ersten drei Worte der Aeneis (Arma virumque cano) und damit den Beginn eines Werkes, das mindestens auf der ersten Leseebene als proaugusteisch gelten darf. Ovids drei Worte, die wie diejenigen Vergils vor der Penthemimeres stehen und in denen alle Vokale verwendet sind, leiten die von Cupido erzwungene Abkehr vom patriotischen Epos zur erotischen Elegie ein. Liest man weiter in 1,1, erkennt man noch mehr Berührungen mit dem Aeneis-Prolog – hier die jeweils ersten sieben Verse im Vergleich:

Arma gravi numero violentaque bella parabam              Arma virumque cano, Troiae qui primus ab oris

     edere, materia conveniente modis.                         Italiam fato profugus Lavinaque venit

Par erat inferior versus; risisse Cupido                        litora – multum ille et terris iactatus et alto

     dicitur atque unum surripuisse pedem.                    vi superum, saevae memorem Iunonis ob iram,

„Quis tibi, saeve puer, dedit hoc in carmina iuris?         multa quoque et bello passus, dum conderet urbem

     Pieridum vates, non tua, turba sumus.                    inferretque deos Latio; genus unde Latinum

Quid, si praeripiat flavae Venus arma Minervae […]?“   Albanique patres atque altae moenia Romae.

Wie man sieht, entspricht der intervenierende Liebesgott in gewisser Weise Vergils Juno, da diese wiederum, wenn auch letzten Endes erfolglos, die göttliche Mission des Aeneas behindert, und die Analogie wird Ovid in den Metamorphosen verdeutlichen, wenn er in Rückbezug auf Amores 1,1 den Dichtergott Apollo zum Opfer der saeva Cupidinis ira macht (1,453). Daher ist es wohl kein Zufall, dass der jeweils siebte Vers der beiden Texte Namen enthält, die man ebenso zueinander in Beziehung setzen kann: Roma bei Vergil (der die Siebenhügelstadt sicher nicht zufällig in V. 7 erstmals nennt) und Venus, die Stammmutter der Römer, bei Ovid; dieser lässt sie freilich nur als Liebesgöttin in Erscheinung treten, und so konfrontiert er durch die Juxtaposition von Venus mit arma, dem zu Beginn von V. 1 an den Beginn der Aeneis erinnernden Wort, die zwei Welten ROMA und AMOR nochmals miteinander. Besonders gut erkennbar werden diese dann am Schluss von Amores 1,1 durch eine Anspielung auf V. 26–28 in Buch 1 von Vergils Georgica, einem durchweg proaugusteischen Werk, als gegensätzlich hingestellt:

                                                                                                         […] te maximus orbis

Cingere litorea flaventia tempora myrto,                      auctorem frugum tempestatumque potentem

     Musa per undenos emodulanda pedes!                    accipiat cingens materna tempora myrto […].

Während Ovid die Muse seiner erotischen Elegien um Bekränzung mit Myrte bittet, die, wie dem zeitgenössischen Leser bewusst war, der Liebesgöttin heilig ist, wünscht Vergil Octavian als dem künftigen Gott, der über Roms „ἔργα καὶ ἡμέραι“ walten wird, die Bekränzung mit der Myrte der Venus als der Mutter der Aeneaden.

     Die Amores „inszenieren“, in der überlieferten Reihenfolge gelesen, einzelne Episoden eines „Liebesromans“, und bereits die Sequenz 1,1f. kann man als „Fortsetzungsgeschichte“ verstehen: Ovid, der zu Anfang von 1,2 über eine unruhig verbrachte Nacht berichtet, könnte – so darf man imaginieren – die „Umfunktionierung“ vom epischen zum erotischen poeta in 1,1 ebenso nur geträumt haben wie die anschließende Verwundung durch einen Pfeil Amors, die ihn zum amator transformiert. Zu dieser Interpretation würde passen, dass der Dichter noch gar nicht richtig weiß, dass er sich verliebt hat, und sich erst einmal klar machen muss, dass das wirklich zutrifft. Indem er es nun verifiziert, ist er sofort bereit, dem Gott, der ihn sich schon „im Traum“ unterwarf, freiwillig zu dienen. Das wiederum bringt Ovid durch ein Bild zum Ausdruck, mit welchem sein erotischer Diskurs erneut spielerisch in die Nähe der augusteischen Welt rückt, und zwar in ganz spezifischer Weise: Er malt sich einen Triumphzug Cupidos aus, in dem er, der servus Amoris, als Gefangener mitgeführt wird, und bei seinem Triumphator handelt es sich um einen Verwandten des Kaisers; das rufen die letzten Verse von 1,2 ins Gedächtnis:

Aspice cognati felicia Caesaris arma:

     qua vicit, victos protegit ille manu.

Wie sein cognatus soll Cupido parcere subiectis, indem er ihnen die vornehmste Caesarentugend, die clementia, gewährt, und er genießt, wie der zeitgenössische Leser wusste, als Triumphator ein Privileg: Nur Augustus und Angehörigen seiner Familie war seit dem Ende der Republik gestattet, die traditionelle Siegesparade zu veranstalten.

     Cupidos Triumphzug in der Schilderung Ovids kann, weil darin der personifizierte furor erwähnt ist, an die berühmte Furor-Szene in der Aeneis erinnern; mir scheint die Intertextualität dadurch gestützt, dass Vergil kurz vorher auf den dreifachen Triumph Octavians am 13., 14. und 15. August 29 v. Chr. anspielt; hier beide Passagen im Vergleich (Amores 1,2,35–40 / Aeneis 1,289–296 [Jupiter zu Venus]):

Blanditiae comites tibi erunt Errorque Furorque,           „Hunc tu olim caelo spoliis Orientis onustum

     assidue partes turba secuta tuas.                            accipies secura; vocabitur hic quoque votis.

His tu militibus superas hominesque deosque;               Aspera tum positis mitescent saecula bellis;

     haec tibi si demas commoda, nudus eris.                 cana Fides et Vesta, Remo cum fratre Quirinus

Laeta triumphanti de summo mater Olympo                 iura dabunt; dirae ferro et compagibus artis

     plaudet et appositas sparget in ora rosas.                 claudentur Belli portae; Furor impius intus

                                                                            saeva sedens super arma et centum vinctus aënis

                                                                            post tergum nodis fremet horridus ore cruento.“

Bei Ovid ist Furor einer der comites Amors, rasende Liebesleidenschaft wird also von dem neuen Sklaven des Gottes als eine Macht, die über ihn gebietet, akzeptiert. Hingegen sperrt der Triumphator Vergils – Aen. 1,289 bezeichnet Octavian implizit als solchen –, der durch seine Siege die pax Augusta geschaffen hat, Furor im Janustempel ein, wo die bei Vergil als Monstrum gesehene Personifikation in Ketten, die durch die Wortfolge abgebildet werden, mit mehrfachem „s“ wie eine Schlange zischt und zusätzlich mit der littera canina knurrt.

     Zu den Standardmotiven der römischen Elegie gehört die militia amoris, ein Begriff, der die Vorstellung vom Liebenden als einem Kämpfer nicht auf dem Feld der Ehre, sondern innerhalb der Beziehung zu seiner puella weckt. Während Properz den Begriff nur als Metapher verwendet (1,6,30), nimmt Ovid ihn in einer Art Eulenspiegelei sehr witzig beim Wort, indem er in Amores 1,9 den amator mit einem Soldaten vergleicht. So benutzen ihm zufolge z. B. beide „Berufsvertreter“ Waffen, wie aus V. 21f. und 25f. hervorgeht, und welches die arma sind, die der liebende Mann „bewegt“, wird sowohl hier als auch durch eine Passage in Trist. 2, dem im Exil verfassten Versbrief an Augustus (533–536), unmissverständlich zum Ausdruck gebracht:

Saepe soporatos invadere profuit hostes

     caedere et armata vulgus inerme manu;

……………………………………………

Nempe maritorum somnis utuntur amantes                   Et tamen ille tuae felix Aeneidos auctor

     et sua sopitis hostibus arma movent.                           contulit in Tyrios arma virumque toros,

Custodum transire manus vigilumque catervas              nec legitur pars ulla magis de corpore toto,

     militis et miseri semper amantis opus.                         quam non legitimo foedere iunctus amor.

Es ist amüsant, wie das Oxford Latin Dictionary, das stets sehr sorgfältig die einzelnen Bedeutungen eines Lexems in durchgezählten Abschnitten angibt, sich darum drückt, arma in den aus beiden Stellen zu erschließenden Konnotationen unter Nr. 8c aufzuführen; dort heißt es “Weapons … applied to ‘nature’s weapons’, i. e. hands, claws, teeth, etc.”, das in Am. 1,9,24 und Trist. 2,534 gemeinte männliche Körperteil ist also in „etc.“ versteckt. Der Tristia-Passus, der ad hoc hätte genannt werden können, erscheint denn auch stattdessen unter Nr. 6b: “~a uirumque, etc. (in allusion to the opening words of the Aeneid or to the work as a whole)”. Ja, die Angabe trifft zu, aber die Tatsache, dass mit arma hier das membrum virile des Aeneas gemeint ist, hätte die Nennung unter 8b gefordert. Der Witz wird in seiner ganzen Frivolität erst dann richtig deutlich, wenn man Folgendes bedenkt: Die Vita Suetoniana-Donatiana Vergils behauptet, man habe den Dichter, der bei Ovid der Dido arma virumque nicht als Buch, sondern leibhaftig ins Bett legt, in Neapel vulgo als Parthenias (Jungfräulicher) bezeichnet (§ 11); das hängt vermutlich irgendwie damit zusammen, dass er selbst in Georg. 4,536f. seinen Namen, der ja auch häufig Virgilius geschrieben wird, mit virgo in Verbindung bringt.

     Kommen wir noch einmal auf das Motiv „Triumph“ zurück! Einen solchen erhoffte man sich von Augustus 16 v. Chr. nach seiner Wiederkehr von einer Expedition gegen den germanischen Stamm der Sygambrer, nachdem diese dem M. Lollius eine schändliche Niederlage bereitet hatten und der Princeps nach Norden marschiert war, um dafür Rache zu nehmen. Es gab dann allerdings keine Siegesparade, weil die Sygambrer freiwillig Frieden schlossen, aber dem Horaz des vierten Odenbuches galt Augustus gleichwohl als preiswürdiger Feldherr, der einen Triumph verdient hätte, und das artikuliert der proaugusteische Lyriker in carmen 2 panegyrisch. Den amator Ovid dagegen interessiert an der Militäraktion seines Kaisers nur etwas Privates, wie aus Am. 1,14 erhellt: Darin wirft er seiner puella vor, dass sie ihre Haare mit einem offensichtlich zu starken Mittel gefärbt und deshalb verloren hat; vergleichen wir die zwei Sygambrer-Passagen miteinander (Am. 1,14, 47–50 / Hor. c. 4,2,33–36):

O quam saepe comas aliquo mirante rubebis                 Concines maiore poeta plectro

     et dices: „Empta nunc ego merce probor.                Caesarem, quandoque trahet feroces

Nescioquam pro me laudat nunc iste Sygambram;         per sacrum clivum merita decorus

     fama tamen memini cum fuit ista mea.“                       fronde Sygambros.

Die erotische Elegie setzt implizit voraus, dass der Sieger über die Sygambrer als Beute auch Sygambrerinnen mit sich bringen wird, aus deren Haaren Perücken angefertigt werden können, und das hat mit Augustusverehrung wenig zu tun, ja reduziert das Wettmachen einer nationalen Schande geradezu auf einen Plünderungszug zum Nutzen der römischen Damenwelt. Horaz dagegen sagt noch etwa fünf Jahre post festum – das vierte Odenbuch dürfte 11/10 v. Chr. erschienen sein –, Iullus Antonius, der Sohn des M. Antonius und der Fulvia, den Augustus’ Schwester Octavia aufgezogen hatte, werde den Kaiser als einen Triumphator in einem Hymnos mit pindarischem Pathos verherrlichen.

     Wie gesagt, die beiden leges Iuliae des Princeps nimmt der Dichter der Amores bereits in diesem Werk von bald nach 16 v. Chr. – uns liefert die Erwähnung der Sygambrer günstigerweise den Terminus post quem für die Datierung – ebenso belustigend wie provokant aufs Korn; zwei signifikante Beispiele seien zum Abschluss kurz betrachtet. Bei dem einen handelt es sich um eine Stelle in Elegie 3,4, in der Ovid als Liebhaber einer an einen vir gebundenen Frau zu seinem Rivalen, der sie eifersüchtig bewachen lässt, Folgendes sagt (37–40):

Rusticus est nimium, quem laedit adultera coniunx,

     et notos mores non satis Urbis habet,

in qua Martigenae non sunt sine crimine nati

     Romulus Iliades Iliadesque Remus.

Nun, rein juristisch gesehen, liegt in V. 39f. ein Verstoß gegen die lex Iulia de adulteriis coercendis vor, die Sex eines Römers mit einer unverheirateten Freien unter Strafe stellte, und bei dem Beispiel aus Roms frühester Vergangenheit kommt erschwerend hinzu, dass das stuprum mit einer Vestalin begangen wurde. Von daher wird plausibel im Sinne von „Das gab’s schon damals“ argumentiert. Aber jemanden, der die Einhaltung des Gesetzes zu garantieren versucht, als „bäurisch“, ihn also als einen ungehobelten Spießer zu bezeichnen, das ist schon ziemlich frech. Und wenn Ovid nun auch noch die Zeugung des Romgründers und dessen Zwillingsbruders durch den einst obersten Römergott Mars als Präzedenzfall für die Lizenz zum Übertreten der lex Iulia de adulteriis anführt, geht der Dichter sehr weit in seiner Respektlosigkeit gegenüber Augustus als dem Restaurator der Tempel Roms und damit der römischen Götterverehrung.

     Dem Kriegsgott weihte der Princeps ja im Jahre 2 v. Chr. auf seinem Forum den Tempel des Mars Ultor und verband damit den heiligen Schwur, er werde sich an den Mördern seines (Adoptiv-)Vaters Caesar rächen. Das sollte man im Hinterkopf haben, wenn man das vermutlich kurz vor der relegatio Ovids geschriebene Distichon in den Fasti liest, das von der Vergewaltigung der Rhea Silvia in faszinierender, so wohl nur im Lateinischen möglicher brevitas berichtet (3,21f.):

Mars videt hanc visamque cupit potiturque cupita

     et sua divina furta fefellit ope.

Durch furta im Pentameter wird die Tat des Mars klar als verbotener außerehelicher Sex klassifiziert, und bei dieser Darstellung des Gottes als eines „Rechtsbrechers“ ist besonders pikant, dass man sich bei Lektüre des Hexameters mit seiner raffinierten Abfolge von Verbformen unweigerlich an Caesars berühmtes veni vidi vici erinnert. Überdies mag man daran denken, dass der (Adoptiv-)Vater des Augustus ein notorischer „Weiberer“ war, wie die Bayern sagen.

     Indem Ovid den vir in Am. 3,4 tadelt, weil er das sex life der mit ihm liierten Frau kontrolliere – coniunx (V. 37) muss in der römischen Liebespoesie nicht Ehegattin bedeuten, aber man assoziiert das natürlich –, lehnt er nicht nur höchst frivol ab, dass ein Mann seine Gemahlin am adulterium hindert, sondern zwangsläufig zugleich, dass dieser, falls er davon erfährt, sie anzeigt; denn dazu war ein Ehemann von der lex Iulia de adulteriis coercendis verpflichtet. Das ist bei Lektüre der Episode zu beachten, mit der Ovid den eigentlichen „Liebesroman“ der Amores vor dem metapoetischen Epilog (3,15) zum Abschluss bringt, Am. 3,14. Darin gestattet der amator seiner Geliebten, die man in der Terminologie der Elegie durchaus auch als coniunx bezeichnen könnte, ihm jederzeit untreu zu sein, aber nur unter einer Bedingung: Sie müsse es strikt vor ihm geheim halten, weil er die Wahrheit seelisch nicht zu ertragen imstande sei. In den letzten acht Versen des Gedichtes sagt er dann noch, wie sie reagieren solle, falls er sie doch mit einem Rivalen in flagranti ertappe. Man kennt ja die Szene, die sich in einer solchen Situation ergeben kann, gut von Film und TV: Ein Mann oder eine Frau kommt zu früh nach Hause, erblickt den Partner bzw. die Partnerin mit einer bzw. einem anderen im Bett und der/die unverhofft Überraschte sagt: „Ich kann alles erklären!“, oder: „Es ist nicht so, wie du denkst!“. Hier nun Ovids Version:

Si tamen in media deprensa tenebere culpa

     et fuerint oculis probra videnda meis,

quae bene visa mihi fuerint, bene visa negato:

     concedent verbis lumina nostra tuis.

Prona tibi vinci cupientem vincere palma est,

     sit modo „Non feci“ dicere lingua memor.

Cum tibi contingat verbis superare duobus,

     etsi non causa, iudice vince tuo.

„Ich hab’s nicht getan!“ soll die puella in der hypothetischen Lage sagen, um dem amator die Gelegenheit zu geben, auch jetzt die Augen zu verschließen, und der wird sie dann wie ein Richter freisprechen; iudice stieß den zeitgenössischen Leser förmlich mit der Nase darauf, sich einen adulterium-Prozess vorzustellen, in dem der Mann sich bemüht, seiner angeklagten Frau dadurch zu helfen, dass er sie von aller Schuld entlastet. Das evoziert das Gedicht freilich nur sekundär; primär hat es “the sense of an ending”, wie die Literaturwissenschaft das nennt. Denn selbst eine Liebesgeschichte, in welcher der amator seiner puella sogar dann sklavisch dient, wenn sie ihn betrügt, gelangt notgedrungen dann, wenn er ihr sogar ausdrücklich erlaubt, beliebig fremdzugehen, an einen Punkt, an dem es mit den beiden unmöglich weitergehen kann.


Der vorliegende Aufsatz ist die schriftliche Fassung eines Vortrags, den ich am 30. 1. 2018 in Hannover am Kaiser-Wilhelm- und Ratsgymnasium und in Oldenburg am Alten Gymnasium, am 31. 1. im Ratsgymnasium Osnabrück, am 27. 2. in Braunschweig am Wilhelmgymnasium und in Hildesheim am Gymnasium Andreanum sowie am 28. 2. in Wilhelmshaven am Neuen Gymnasium hielt. Mein ganz besonderer Dank gilt Dr. Matthias Hengelbrock, der mich zu dem Vortragsthema anregte und diese „Niedersachsentour“ für mich, den ehemaligen Schüler des Alten Gymnasiums, an dem er jetzt lehrt, perfekt organisierte; dankbar hervorheben möchte ich aber auch wegen der überaus netten Betreuung Sören Conrad, Stefan Gieseke, Dr. Armgard Heine, Martina Laue, Dr. Maria Lühken und Dr. Bettina Meitzner. Den primär an Gymnasiastinnen und Gymnasiasten gerichteten Vortrag habe ich für Fachkollegen auf das Wichtigste reduziert, d. h. nähere Darlegungen mit Rücksicht auf das junge Publikum sind ebenso weggelassen wie meine auf dem Textblatt beigegebenen (Vers-)Übersetzungen. Aber auch in der gewählten Form ist der Vortragscharakter beibehalten. Eine Einführung in den gegenwärtigen Forschungsstand und die wichtigste neuere Literatur zu Ovids Amores enthält meine zweisprachige Ausgabe in der Sammlung Tusculum, Berlin/Boston 22014, S. 269–274. Speziell profitiert habe ich von dem Kommentar James C. McKeowns zu Buch 1 und 2 (3 Bände, Liverpool 1987–1998; Buch 3 wird zurzeit von Joy Littlewood kommentiert und erscheint demnächst als abschließender Band 4) sowie von dem oben genannten Aufsatz Wilfried Strohs. Als die lesenswerteste Untersuchung zu der Elegiensammlung darf nach wie vor Gerlinde Bretzigheimer, Ovids Amores. Poetik in der Erotik, Tübingen 2001, gelten.

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