„Die Ausrichtung eines Faches an von außen vorgegebenen Zielen kann die Stoffe zu bloßen Mitteln zum Zweck degradieren, sie kann den antiken Texten ihren Selbstwert … nehmen … Ein weiteres Risiko liegt im Ansatz des curricularen Denkens: Die Ausrichtung von Fachstoffen an den Anforderungen der Gesellschaft bringt eine Verengung des Bildungsgedankens mit sich; es könne letztlich nur mehr um die Vermittlung von Fähigkeiten gehen … Dieser behaviouristische Ansatz nimmt zu wenig Rücksicht auf die Personalität des Menschen.“[1]

Friedrich Maier (1974)

Aufgerüttelt durch die vom einflussreichen Direktor des 1963 neu gegründeten Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Saul B. Robinsohn, im Rahmen der Entfaltung seiner Curriculum-Theorie aufgestellte Behauptung, humanistische Bildung und Alte Sprachen seien für die gesellschaftlichen Erwartungen an eine zeitgemäße Schule obsolet, wurde 1969 in Hannoversch-Münden vom DAV der berühmte Ausschuss für didaktische Fragen ins Leben gerufen, der die Ziele des altsprachlichen Unterrichts zunächst in einer am 2.10.1970 in Hannover vom DAV verabschiedeten Erklärung neu formulierte und darüber hinaus die berühmte Lernziel-Matrix ausarbeitete, um die Bildungsleistung der Alten Sprachen auch unter den Rahmenbedingungen des neuen pädagogischen Leitdiskurses für die Schülerinnen und Schüler nicht nur zu erhalten, sondern ihr sogar neuen Auftrieb zu verleihen. Das 50jährige Jubiläums der Veröffentlichung dieser grundlegenden Zielbestimmung im Jahr 1971 wollen wir zum Anlass nehmen, diese Erklärung hier erneut abzudrucken (s.u.).[2] Auch wenn es ein wenig Kritik am Fehlen des affektiven Aspektes gab, der für die Motivation von Schülerinnen und Schülern keinesfalls zu unterschätzen ist, so ist doch die bewusste Konzentration auf die kognitiven Gesichtspunkte im Rahmen einer Abkehr vom Pathos früherer Zeiten verständlich.[3]

Beim Studieren dieser nunmehr fünfzig Jahre zurückliegenden Diskussion ergibt sich die Frage, ob die grundsätzliche Kritik am Curriculums-Ansatz, die im einleitenden Zitat unseres Ehrenvorsitzenden Friedrich Maier zum Ausdruck kommt, nicht auch heute vice versa auf den Kompetenzen-Ansatz transferiert werden könnte...

Katja Sommer

Hier der Text der Erklärung von 1971:

Ziele des Latein- und Griechisch-Unterrichts

I. Die Gesellschaft stellt der Schule den Auftrag, im jungen Menschen Fähigkeiten zu entwickeln, die ihm ein Leben in Selbstbestimmung und in Verantwortung ermöglichen. Lernen, zumal Lernen im Unterricht, soll Urteilsvermögen begründen und Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit wecken.

Kritischer Umgang mit Sprache, der durch vergleichende Beschäftigung mit mehreren Sprachen gefördert wird, dient diesen Zielen. Denn das Erlernen jeder fremden Sprache erweitert die Sprachkompetenz; das Reflektieren über sie und die Interpretation der in ihr geformten Gedanken vertiefen Weltverständnis und Urteilsvermögen. Damit werden Voraussetzungen für ein rational begründetes Handeln geschaffen.

Das Lateinische und das Griechische besitzen für diesen Lernprozeß wegen ihrer sprachlichen Struktur und wegen der formalen und inhaltlichen Qualität ihrer literarischen Zeugnisse optimale didaktische Eignung.

Der Unterricht in jeder dieser Sprachen

  • schult das Sprach- und Denkvermögen und entwickelt Ausdrucks- und Interpretationsfähigkeit,
  • eröffnet Zugänge zu wichtigen Bereichen der geistigen und sozialen Welt,
  • weckt historisches Bewußtsein und erleichtert die Orientierung in der Gegenwart,
  • vermag selbständiges und kreatives Denken zu fördern und so zur Entfaltung der dem Menschen eigentümlichen Kräfte beizutragen.

II. Der Unterricht strebt diese Ziele an, indem er den von den Griechen und Römern in überschaubarer sprachlicher Form bereitgestellten Vorrat an Fragen und Lösungsversuchen durch Interpretation auswertet und erzieherisch fruchtbar macht. Dabei konfrontiert er junge Menschen mit Erfahrungen und Denkmodellen der Griechen und Römer, zwingt zu kritischer Distanz von eigenen, zeit- und umweltverhafteten Denk- und Sprechgewohnheiten und fordert zur Stellungnahme heraus. Er stellt ein methodisches Verfahren dar, die im Wort ausgedrückten Sachverhalte zu erfassen, zu ordnen und zu deuten und so Maßstäbe für sachgemäßes Urteilen und Handeln zu entwickeln.

Dieser Bereich der schulischen Arbeit leistet somit auf eine spezifische und nicht ersetzbare Weise seinen Beitrag zur Selbstverwirklichung des Menschen im Rahmen der individuellen Möglichkeiten und der gesellschaftlichen Gegebenheiten; er kann daher aufgrund seiner motivierenden Kraft gerade in einem den Bedürfnissen unserer Zeit dienenden Bildungswesen einen festen Platz beanspruchen.

III. Im Zentrum einer so verstandenen humanistischen Bildung steht die Arbeit an der Sprache. Sprache ist nicht allein ein Mittel zur direkten verbalen Kommunikation, sondern als Abstraktionssystem auch ein Instrument der Welterfassung und Weltdeutung. Das Erlernen einer fremden Sprache bedeutet somit Gewinnung eines neuen Standpunktes zur Erweiterung und Korrektur der bisherigen Weltsicht.

Latein und Griechisch bieten einerseits die besonderen Vorteile der Abgeschlossenheit und Distanz, andererseits sind ihre Elemente teils im europäischen Sprachbereich, teils in der internationalen Wissenschaftssprache präsent und weiterhin produktiv. In sinnvoller Aufgabenteilung mit dem Unterricht in modernen Sprachen ermöglicht der Unterricht in Latein und Griechisch aufgrund der besonders differenzierten Morphosyntax dieser Sprachen Einsichten in sprachliche Grundstrukturen. Daher regt das Erlernen dieser Sprachen in jeder Phase zu fruchtbarer Reflexion über Sprache an und führt zu Sprachbewußtsein und sprachkritischem Verhalten. Die dazu erforderlichen methodischen Anstrengungen schulen den jungen Menschen im Beobachten und Analysieren sprachlicher Phänomene aller Art und schaffen eine günstige Disposition zum Erlernen fremder Sprachen überhaupt.

Die lateinische Sprache zeichnet sich aus durch die Klarheit und Gesetzmäßigkeit ihres Gefüges und durch die Ökonomie ihrer Mittel, die zu intensiver Analyse der Aussage und ihrer Form zwingt. Durch die vorherrschend konkrete Ausdrucksweise erzieht sie zu sachnahem Denken und Sprachverhalten.

Die griechische Sprache besitzt infolge ihres großen Formenreichtums und Wortbestandes besonders flexible Ausdrucksmöglichkeiten, zugleich aber eine bedeutende Abstraktionsfähigkeit. Ihre kreative Kraft, die es ihr ermöglicht, eine vielfältige Wirklichkeit angemessen darzustellen, erzieht zu differenzierendem Denken und Sprachverhalten.

IV. Die interpretierende Lektüre bedeutender Texte konfrontiert den heutigen Leser mit den Welt- und Lebenserfahrungen der Griechen und Römer.

Insbesondere handelt es sich dabei um

  • historisch-politische und gesellschaftliche Erfahrungen und Ideen,
  • wissenschaftliche Fragestellungen und Erkenntnisse,
  • philosophische Spekulationen, Systeme und Methoden,
  • dichterische Deutungen menschlicher Situation.

Bei der Arbeit an den Texten tritt den Schülern eine Fülle von Grundfragen der menschlichen Existenz überschaubar vor Augen. Eine derartige Konfrontation macht ihnen solche Probleme bewußt und fordert sie zur Auseinandersetzung mit den dargebotenen Lösungen heraus; davon können fruchtbare Handlungsimpulse ausgehen.

Darüber hinaus ist Lektüre-Unterricht infolge der unaufhebbaren Einheit von Aussage-Intention und sprachlich-literarischer Form stets zugleich Sprachunterricht; diese Einheit wird nur durch die Arbeit an Originaltexten erfahren. Die Lektüre originaler Texte kann durch Übersetzungen ergänzt, aber nicht durch sie ersetzt werden. Zur Veranschaulichung der Gedankenwelt und Gestaltungskraft der Griechen und Römer werden auch die Werke der bildenden Kunst in die Interpretation einbezogen.

Endlich trägt die Erfahrung des weitreichenden, bis in die Gegenwart fortwirkenden Einflusses der antiken Sprachen und Kulturleistungen zur Erkenntnis historischer Kontinuität und geistiger Wandlungsprozesse bei.

(Beim vorstehenden Text handelt es sich um das offizielle Grundsatzprogramm des DAV, mit dem die Zielvorstellungen aus dem Jahre 1951 abgelöst werden. Red.)[4]

 

[1] Maier, Friedrich, Zur Lage der Alten Sprachen im Rahmen des Bayerischen Kollegstufenmodells,

in: DASiU 3/1974, 11–17, S.14, zit. nach Kipf, Stefan, Altsprachlicher Unterricht in der Bundesrepublik Deutschland, Bamberg 2006, unveränderte Wiederveröffentlichung bei Propylaeum, Heidelberg 2020, S.218, Anm.203.

[2] Mitteilungen des Deutschen Altphilologenverbandes 14, 1971, S.1-2, als Digitalisat zu finden unter: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/mdav1971

[3] Ausführlich zur Analyse dieser Neubestimmung cf. Kipf, S.176-218.

[4] Für die Bildungszielformulierungen von 1951 cf. Burck, E., Clasen, A., Fritsch, A., Die Geschichte des Deutschen Altphilologenverbandes 1925-1985, Mitteilungen des Deutschen Altphilologenverbandes. Sonderheft 1987, S.24f.

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