Seit der frühen Republik ist der Circus Maximus in Rom Schauplatz spektakulärer Wagenrennen gewesen. Über Jahrhunderte hinweg haben die Clubs der „Grünen“ und „Blauen“ dort ihre Viergespannrennen gefahren und eine nach Hunderttausenden zählende Zuschauerschaft in ihren Bann gezogen. Während die Fans ihren „grünen“ und „blauen“ Pferden und Jockeis zujubeln, genießt der jüngere Plinius sein alternatives Rennvergnügen:

(Plin. ep. IX 6)

1 Omne hoc tempus inter pugillares ac libellos iucundissima quiete transmisi. 'Quemadmodum' inquis 'in urbe potuisti?' Circenses erant, quo genere spectaculi ne levissime quidem teneor. Nihil novum nihil varium, nihil quod non semel spectasse sufficiat. 2 Quo magis miror tot milia virorum tam pueriliter identidem cupere currentes equos, insistentes curribus homines videre. Si tamen aut velocitate equorum aut hominum arte traherentur, esset ratio non nulla; nunc favent panno, pannum amant, et si in ipso cursu medioque certamine hic color illuc ille huc transferatur, studium favorque transibit, et repente agitatores illos equos illos, quos procul noscitant, quorum clamitant nomina relinquent. 3 Tanta gratia tanta auctoritas in una vilissima tunica, mitto apud vulgus, quod vilius tunica, sed apud quosdam graves homines; quos ego cum recordor, in re inani frigida assidua, tam insatiabiliter desidere, capio aliquam voluptatem, quod hac voluptate non capior. 4 Ac per hos dies libentissime otium meum in litteris colloco, quos alii otiosissimis occupationibus perdunt.

„Diese ganze Zeit habe ich zwischen Schreibtäfelchen und Büchern in der angenehmsten Ruhe verbracht. ‚Wie‘, fragst du, ‚hast du das in der Stadt fertiggebracht?‘ Es waren Wagenrennen, ein Schauspiel, von dem ich mich nicht im Geringsten fesseln lasse: Nichts von Neuerung, nichts von Abwechslung, nichts, das nicht einmal gesehen zu haben genügte. Umso mehr wundere ich mich, dass so viele tausend Männer so kindisch immer wieder das Verlangen verspüren, laufende Pferde und auf Wagen stehende Menschen zu sehen. Ja, wenn sie entweder von der Schnelligkeit der Pferde oder von den Fahrkünsten der Lenker angezogen würden, hätte das noch einigen Sinn. Jetzt aber jubeln sie einem Trikot zu, für ein Trikot schwärmen sie, und nimm einmal an, mitten im Rennen, mitten im Wettkampf werde die eine Farbe dorthin, die andere hierhin übertragen: Die Anfeuerung und die Beifallsrufe werden auf die andere Seite überspringen, und augenblicklich werden die Fans ebendie Jockeis, ebendie Pferde, die sie von weither erkennen, deren Namen sie in Sprechchören skandieren, schnöde fallen lassen. So viel Publikumsgunst, ja so viel Autorität liegt in einem einzigen lumpigen Trikot - meinetwegen bei der Menge, die noch lumpiger als ein Trikot, aber doch auch bei manchen ernstzunehmenden Menschen! Wenn ich daran denke, wie diese Leute vor einem so nichtssagenden, gleichgültigen, immergleichen Schauspiel ihre Zeit versitzen, ziehe ich einiges Vergnügen daraus, dass dieses Vergnügen mich nicht in seinen Bann zieht. Und so lege ich die geschenkte Muße dieser Tage nur zu gern in meiner literarischen Arbeit an, während andere ebendiese Tage mit dem müßigsten Zeitvertreib vertun.“

An den Anfang seiner „Worte an sich selbst“ hat Marc Aurel einen weit ausgreifenden Dankeskatalog gestellt; an fünfter Stelle, nach Großvater, Vater, Mutter und Urgroßvater, dankt er seinem Erzieher, dass er „weder ein Grüner noch ein Blauer geworden“ sei.


aus: Bartels, Klaus, Jahrtausendworte - in die Gegenwart gesprochen, Rombach Wissenschaften, Paradeigmata Bd. 50, ed. Bernhard Zimmermann in Zusammenarbeit mit Karlheinz Stierle und Bernd Seidensticker, Freiburg i. Br. 2019, S.142f.

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