Im Sommer des Jahres 70 wurde Rom Zeugnis eines denkwürdigen Schauspiels: Der amtierende Konsul Pompeius, dem sein Amt die Würde eines Senators verlieh, zelebrierte vor dem Tribunal der Zensoren seinen Abschied von den Rittercenturien: „Da sah man Pompeius auf den Markt herunterkommen“, berichtet Plutarch, „mit allen Abzeichen seiner Würde angetan, aber sein Pferd mit eigener Hand am Zügel führend. Als er nahe war und alle ihn sahen, befahl er seinen Liktoren, beiseite zu treten, und führte sein Pferd vor das Tribunal.“

Die Umstehenden spitzten erwartungsvoll die Ohren, als der Zensor dem Angetretenen die Frage stellte, ob er die vom Gesetz vorgeschriebenen Feldzüge mitgemacht habe. „Ich habe sie alle mitgemacht“, schrie Pompeius und fügte hinzu: „und alle unter meinem Kommando.“ Tosender Beifall war die Antwort und Zensoren und Volk gaben ihrem Helden das Ehrengeleit, als er in sein Haus zurückkehrte.1 Für Augenblicke wie diese, in denen ihn die ungetrübte Zustimmung von Adel und Volk entgegenschlug, lebten Pompeius und mit ihm alle seine adligen Standesgenossen. Schien der Jubel der Massen doch zu bestätigen, dass sie wirklich groß waren und Rom dies anerkannte.

Ihnen allen wiesen Familie und Herkunft einen klaren Weg. Wenn der Vater den Säugling vom Boden aufnahm und seinen Sohn nannte, wurde er dem Grundgesetz aristokratischen Lebens unterworfen: Politik und Krieg. Beide, dies lernte der Knabe früh, waren gestrenge Herren und forderten asketische Hingabe. Denn nur in ihren Diensten war zu gewinnen, was allein das Leben lohnte: Ruhm und Ehre (gloria et dignitas). Männer, die sich diesem Ziel verschrieben hatten, sah der Kirchenvater Augustinus vor sich, als er zu Beginn des 5. Jahrhunderts sein Urteil über die Römer fällte: Einzig dünkelhafte Selbstsucht habe sie bis an die Grenzen der Erde getrieben, „Ruhm liebten sie glühend, für ihn gingen sie ohne Zögern in den Tod; die übrigen Begierden drängten sie zurück aus grenzenloser Sucht nach Ruhm und nichts als Ruhm.“2

Sie alle pflegten die Erinnerung an die Geschichte der Vorfahren. Deren Taten gaben die Beispiele (exempla) für das richtige Verhalten an die Hand. „Auf Sitten und Männern alter Art ruht der Bestand des römischen Staates“ schrieb um 200 der aus dem kalabrischen Rudia (unweit von Lecce) stammende Dichter Ennius.3 Die Späteren zitierten ihn immer wieder als den Kronzeugen römischen Wesens, obwohl er erst als Günstling des Geschlechts der Fulvier das Bürgerrecht erhalten hatte. „Was Kürze und Wahrheitsgehalt anbelangt“, begeisterte sich Cicero, „scheint Ennius diesen Vers wie aus einem Orakel verkündet zu haben.“4 Und da es so war, entschieden die Verhaltensweisen der Vorfahren (mos maiorum) auch über die Richtigkeit des in der Gegenwart einzuschlagenden Weges oder über die Güte vorhandener staatlicher und gesellschaftlicher Zustände.

Bilder und Losungen der verklärten Vergangenheit gesellten sich also zu jedem rationalen Kalkül, wenn es um politische Entscheidungen ging. Jeder, der den Blick in die Zukunft richtete und diese gestalten wollte, wappnete sich mit der Berufung auf die Herkunft. Die Toten und ihre Taten waren die Instanz, vor der alles Gegenwärtige und alles Zukünftige zu bestehen hatte. Was sie erwarteten, erklärt der Schreiber eines bei Sallust überlieferten Briefes an Caesar: Sprächen das Vaterland und deine Eltern zu dir, würden sie dir als Erbe an Herz legen, „das größte Vaterland auf der Erde, das angesehenste Haus und die angesehenste Familie, außerdem gute Eigenschaften, ehrenvollen Reichtum, schließlich alle Zierden des Friedens und alle Auszeichnungen des Krieges.“5

Für keinen Römer von Stand gab es die Möglichkeit, sich aus Herkunft und überkommener Verantwortung zu lösen; immer und überall war das Erbe der Ahnen die Richtschnur des Handelns. Die Maßstäbe der Vergangenheit maßen die Schritte aus, die der Gegenwärtige in die Zukunft tat. Dies hatte nicht zuletzt mit der Einsicht in die Kürze des Lebens zu tun, die sich an der Dauer des Gewesenen messen lassen musste.6

So wurde die gemeinsame Erinnerung an die Großen der Vergangenheit zur gesellschaftlichen Pflicht der Adelshäuser. Das prunkvolle Begräbnis eines der ihren vollzog die liturgische Anbetung der Tradition und der Familienehre: Dem Toten voraus trugen Auserwählte in langer Reihe die Masken der Vorfahren; hatte der Leichenzug sein Ziel an der Rednertribüne erreicht, verkündete der älteste Sohn den Ruhm seines Vaters und seines Geschlechts. Darsteller der Ahnen umringten auf elfenbeinernen Stühlen die Tribüne und nahmen den Toten in ihren Kreis auf. Der von diesem Schauspiel tief beeindruckte Grieche Polybios erkannte den Sinn, der dem Ganzen innewohnte: „Das ehrende Gedächtnis der Wohltäter des Vaterlandes bleibt im Volke wach und wird weitergegeben an Kinder und Enkel. Vor allem aber wird die Jugend angespornt, für das Vaterland alles zu ertragen, um selbst den Ruhm, der dem verdienten Manne folgt, zu gewinnen.“7

Der Weg nach oben

Den Weg dorthin planten die meisten als eine durch die geltenden Gesetze geregelte Abfolge von Bewerbungen um die Staatsämter. Das Höchste, das es zu erreichen galt, war das Konsulat. Dieses Amt verschaffte seinem Inhaber Macht und Ehre auf Lebenszeit und adelte für immer. Nunmehr gehörte man zur Nobilität, die sich aus den Familien der gewesenen Konsuln zusammensetzte. Ihnen fielen die Statthalterschaften der reichsten Provinzen zu, sie führten die Eroberungskriege der Republik, sie besaßen im Senat eine lebenslängliche Ehrenstellung, sie lenkten die Geschicke des Staates. Innerhalb des Adels bildeten sie den engeren Herrenstand, und sie setzten alles daran, diesen Rang zu behaupten.

Wer ihn streitig machen wollte, durfte nicht auf Beifall hoffen. Denn jedermann anerkannte die hierarchische Ordnung der Gesellschaft wie die Luft, die er atmete. Als im Jahre 90 der Volkstribun Q. Varius, gebürtig aus dem spanischen Sucro, den Aemilius Scaurus, Konsul des Jahres 115, vor einen Sondergerichtshof zerrte, verteidigte sich dieser mit der Frage nach seiner und der Glaubwürdigkeit seines Anklägers: „Q. Varius, der Mann aus Spanien, behauptet, M. Scaurus, der Erste im Senat (princeps senatus), habe die Bundesgenossen zu den Waffen gerufen. M. Scaurus, der Erste im Senat, bestreitet das. Zeugen gibt es keinen. Wem von beiden, Quiriten, müsst ihr glauben?8

Die Anklage wurde unter allgemeinem Beifall zurückgezogen. Die unstrittige Autorität eines Konsulars und Patriziers zerstörte bereits im Ansatz jedes Argument eines Klägers, dessen provinziale Herkunft und jugendliches Alter ihm die Chance nahmen, auf die Frage des Scaurus eine überzeugende Antwort zu finden. Der große Herr war und blieb der soziale und politische Orientierungspunkt. Der kleine Mann beugte sich, erfuhr er doch täglich neu, dass die Welt den Reichen und Mächtigen gehörte; niemand, ein Emporkömmling aus Spanien schon gar nicht, konnte deren Glaubwürdigkeit erschüttern.

Leicht wurde der Weg nach oben für niemanden. Er forderte die exakte Ausbildung als Redner, Rechtskundiger und Soldat. Den Gipfel erreichte jedoch nur, wer den Zusammenhalt der Familie wahrte, Freundschaften (amicitiae) schloss, politische Verbindungen (factiones) knüpfte und alles auf das Sorgfältigste zu pflegen wusste. Familie und Freunde, Krieg und Politik: verwobene Fäden, die die Aristokraten enger miteinander verbanden, als dies Geld oder Geschäft je vermocht hätten.

Für diese Männer war es wichtiger, mit ihresgleichen zu streiten, als sich einer Sache oder einem Programm mit Haut und Haaren zu verschreiben. Ihr Denken und Hoffen kreiste unablässig um die Macht, die Ehre und Ruhm verhieß. Den Kampf darum focht man unter sich aus, und das Turnierfeld dazu boten die Wahlen, der Streit vor Gericht, die großen Kriege. Dazu freilich brauchte man viel Geld; das dem Stand gemäße Auftreten, die Bestechungssummen für Wähler und Richter, die Hilfe für die Freunde und Klienten, der Wettkampf um die prächtigsten Spiele und opulentesten Gastmähler verschlangen Unsummen, die nur dann wieder hereinkamen – und das Weitermachen ermöglichten -, wenn der Zugriff auf die Statthalterposten der Provinzen gelang.

So konnten Außenseiter nur in Ausnahmefällen hoffen, sich den Traum vom Konsulat zu erfüllen. In den Jahren 78 bis 49 kamen 54 von 61 Konsuln aus den großen Familien; nimmt man das vergangene Jahrhundert hinzu, so regierten seit dem Hannibalischen Krieg weniger als zwanzig Familien als Herren über das Konsulat und die Militärkommandos den römischen Staat und sein Imperium.

Einer war als Homo novus dazugestoßen: Cicero. Seine Karriere verlief ganz anders als die eines Sprosses aus großem Haus oder gar als die eines Pompeius oder Caesar. Geboren als Sohn eines Ritters aus der italischen Provinz, bescheiden begütert, kehrte er den Waffen früh den Rücken und widmete sich dem Zivil- und Strafrecht. Als wortgewandter Anwalt fiel er den adligen Familien auf, die ihre Fehden um die Staatsämter auch vor Gericht austrugen. Sie schlugen ihn für das Jahre 63 zu Konsul vor und lohnten damit seine Loyalität. In den folgenden zwei Jahrzehnten machte ihn allein die Macht des Wortes zum einflussreichen Politiker – solange jedenfalls, solange in Rom die Waffen schwiegen.

Als es damit vorbei war, galt sein Satz: „Denn geschehen wird, was die wollen, die die Macht in der Hand haben, und die Macht wird immer bei den Waffen sein.“9 So blieb Cicero im Sommer 43 nach der Eroberung Roms durch die Truppen des neuen Caesar Oktavian nur die Bitte, Rom und den Senatssitzungen fern bleiben zu dürfen. Ein gebrochener Mann zog sich auf seine Güter bei Tusculum zurück. Sein Dankschreiben an seinen Bezwinger ist die letzte von ihm überlieferte Äußerung: „Dass du mir Urlaub gewährst, freut mich doppelt: Du verzeihst, was war, und lässt auch für die Zukunft Gnade walten.“10 Er sollte sich irren. Unter den Toten, die wenig später Mordkommandos zum Opfer fielen, war auch er.

Das Ziel des Lebens

Ihr Lebensziel hatten die adligen Familien früh in Krieg und Eroberung gefunden. Als sich die Republik im 4. Jahrhundert v.Chr. anschickte, ihre Macht in Mittelitalien gegen die umwohnenden Völker erst zu verteidigen und dann auszudehnen, wurden alle Tugenden in das Ethos und die Disziplin des Staates eingeschmolzen.

Sein Wohl wurde zum ersten Gebot. Wer ihm folgte, durfte nicht davor zurückscheuen, sich selbst zu opfern. Livius ruft als Zeugen Marcus Curtius auf, einen jungen, im Krieg ausgezeichneten Mann. Berühmt wurde er, als auf dem Forum die Erde aufriss und die Seher verkündeten, wenn Rom wolle, dass sein Staat ewig sei, dann müsse es in dem Spalt begraben, wodurch es am meisten vermöge. „Waffen und der Mut eines Mannes (arma virtusque)“ seien es, rief Curtius seinen ratlosen Mitbürgern zu, betete zum Himmel, weihte sich als Opfer und stürzte sich mit Pferd und Waffen in den Spalt, der sich über ihm schloss, während die Menge Opfergaben über ihn warf.11

Die Lehre der Geschichte war einfach und unüberhörbar: Nur im Dienst des Staates und unter seinen Fahnen konnten künftig Ehre und Ruhm gewonnen werden. Die Nöte der Expansionskriege in Italien und der Kampf auf Leben und Tod mit dem seemächtigen Karthago machten das Bündnis von Staat und aristokratischer Ehrsucht schließlich unauflöslich. Am Ende des Lebens zählten nur noch die erreichten Ämter und die errungenen Siege. Von beidem sprachen zahllose Grabinschriften, darunter die des ersten der Scipionen (Konsul 298), geschlagen etwa um 200:

„Lucius Cornelius Scipio Barbatus…,

ein tapferer und lebenskluger Mann…,

der Konsul, Zensor, Ädil bei euch gewesen ist,

Taurasia und Cisauna in Samnium nahm er ein,

unterwarf ganz Lukanien und führte Geiseln weg.“

Das Konsulat und der große Krieg – dies war auch das Ziel vieler Gescheiterter. Unter ihnen steht Catilina. Dieser stammte aus dem alten patrizischen Geschlecht der Sergier, war als Scherge Sullas reich geworden, 67/66 Statthalter in Afrika und danach entschlossen, auch noch den Sprung zum Konsulat zu schaffen. Viermal versuchte er es auf legalem Wege, viermal scheiterte er am Widerstand der Optimaten, die ihm misstrauten. Im Sommer 63 im Wahlkampf erneut unterlegen, entschloss er sich zum Aufstand – nicht, wie er in die Welt posaunte, als Fürsprecher verschuldeter Adliger, verarmter Veteranen und der hauptstädtischen Plebs, sondern als Angehöriger des Hochadels, der die Zurücksetzung nicht ertrug.

Das Ende adliger Solidarität

Die politischen Ordnung der Republik lebte von der Gleichheit der aristokratischen Clans und deren Einordnung in das gemeinsame Ganze: „An Recht, Gesetz, Freiheit, Gemeinwesen“, forderte Porcius Cato (234-149), Konsul und Zensor, „sollen alle gemeinsam teilhaben; an Ruhm und Anerkennung (gloria atque honore), wie ein jeder sie sich erwarb.“12 Beides, die Gleichheit wie die Einordnung, gelang jedoch immer weniger. Die Solidarität zerbrach, als das Weltreich den Generälen der Republik bis dahin nie gekannte Handlungsspielräume öffnete. „Die alte, den Menschen längst eingewurzelte Gier nach der Macht“, schrieb Tacitus, „musste gleichzeitig mit der Vergrößerung des Reiches anwachsen, mit ihr eigentlich erst zum Ausbruch kommen. War doch nur unter bescheidenen Verhältnissen Gleichheit untereinander leicht zu bewahren.“13

Das Imperium also veränderte alles. Mit Sulla erfasste eine neue Eroberungswelle den Mittelmeerraum. Rom drang in die weiten Räume asiatischer und mitteleuropäischer Länder vor, die von unterschiedlich entwickelten Völkern mit unterschiedlicher Wehrtechnik bewohnt waren. Die Feldzüge gegen sie, geführt vom Atlantik bis zum Euphrat, forderten nicht nur eine ständig wachsende Zahl von Männern, sondern jetzt auch solche mit besonderen Fertigkeiten. Dies wiederum erzwang eine Reform der überkommenen Rekrutierungspraxis, die Verlängerung der Dienstzeiten um viele Jahre und ein völlig neues Ausbildungssystem.

Jetzt folgten den Werbern Männer, die im Krieg nichts zu verlieren, wohl aber alles zu gewinnen hatten. Sie dienten viele Jahre, erlebten das Feldlager als ihre Heimat und marschierten, wenn es not tat, viele hundert Kilometer, um den Gegner entweder zu stellen oder zum Rückzug in menschenleere Gebiete zu nötigen, wo er verhungerte oder aufgab. Dieser Krieg brauchte Feldherrn und Offiziere, die alle Strategien eines großräumig geplanten Angriffs- und Zermürbungskrieges beherrschten und alle logistischen Probleme bewältigen konnten, welche die Versorgung eines großen Heeres mit Nahrung, Waffen und Belagerungsmaschinen aufwarf.

Den Wenigen, denen dies gelang, fiel eine Macht zu, die sie über ihre Standesgenossen erhob und die Republik, die ohne den Konsens des Senatsadels nicht leben konnte, in den Grundfesten erschütterte. Sallust beschrieb die neue Wirklichkeit, die die Jahrzehnte zwischen Sulla und Augustus prägte: „Nach dem Willen weniger wurde in Krieg und Frieden gehandelt; in den Händen derselben Männer lagen die Staatskasse, die Provinzen, Ämter, Ruhmestitel und Triumphe. Die Kriegsbeute plünderten die Feldherrn mit wenigen.“14

Die Folgen waren unabwendbar: die Fülle der in die Hände der Generäle gelegten Macht und ihr den Provinzen abgepresster Reichtum löste sie aus den Bindungen ihres Standes. Männer wie Lucullus und Pompeius hatten Königreiche zerstört und genossen im Osten göttliche Ehren als Heilande und Retter - die ihnen errichteten Standbilder und Altäre zeugen davon. Ihr Selbstgefühl stieg mit diesen Ehren, und ihr Machtanspruch wuchs mit den großen Aufgaben, die sie lösten. Wie sollten sie, die in der Welt beinahe alles tun konnten, was sie wollten, zuhause wieder einer unter vielen sein, beargwöhnt von neidischen Standesgenossen?

Dass die adlige Solidarität brüchig war, zeigte sich früh. Am Beginn des 3. Jahrhunderts malten ruhmsüchtige plebejische Geschlechter in leuchtenden Farben die Legende von Coriolan – Livius hat sie vorgefunden und sie unter dem Eindruck der Nöte seiner Zeit zu einem großen Drama umgeschrieben. Er erzählt von einem Krieger, den, nach großen Siegen Konsul geworden, ein undankbares Volk des Hochverrats beschuldigt. Er flieht und sucht Schutz und Gastrecht am Hofe des Königs der feindlichen Volsker; dort steigt er bald zum Kommandeur der volskischen Milizen auf.

Um seine gekränkte Ehre (dignitas) zu retten, führt er die Truppen des Landesfeindes vor die Tore des wehrlosen Rom. Senatoren und Priester flehen um Schonung – vergeblich. Erst der Mutter zuliebe, die als Bittflehende an der Spitze der römischen Matronen in sein Lager kommt und dem Aufrührer die Pflichten eines Römers entgegenhält, gibt er Sieg und Rache aus der Hand und befiehlt den Rückzug: „Mitleid mit seinem eigenen Jammer und mit dem des Vaterlandes brachen den Mann.“ Er starb hochbetagt im Exil, ohne Rom wiedergesehen zu haben.15

Wer wollte nach dieser Lektüre nicht an die Generäle der Bürgerkriege denken, an Sulla, Caesar und Oktavian, die ihre Legionen gegen Rom geführt hatten? Alle drei beriefen sich wie Coriolan auf das Unrecht, das ihnen angetan worden sei, alle drei führten wie Coriolan ihre Truppen vor die Tore Roms. Keinen aber, anders als Coriolan, jammerte das Unglück des Vaterlandes.

Eine zweite, auch von Livius in mitreißenden Rededuellen geschilderte Geschichte, an deren Historizität kein Zeifel besteht, enthält dieselbe Lehre. 183 v.Chr. starb auf seinen Landgütern enttäuscht und einsam ein Mann, der in Spanien, Afrika und Kleinasien die römische Weltmacht begründet hatte: Scipio Africanus. Als Bezwinger Hannibals war er schon zu Lebzeiten zur Legende geworden. Trotzdem war seine Bitterkeit so groß, dass er seiner Familie verbot, seine Leiche nach Rom zu bringen und dort in die Gruft seiner großen Ahnen zu senken. Er wollte auch im Tode mit der Republik nichts mehr gemein haben. Denn sie hatte es trotz seiner Kriegszüge in Spanien, Afrika und Asien Volkstribunen gestattet, ihn wegen Bestechung und Unterschlagung anzuklagen und Rechtfertigung vor Gericht zu fordern. Statt diese zu geben, hatte der in seiner Ehre tief Gekränkte seine Rechnungsbücher vor den Augen des Volkes und der Ankläger zerrissen und zornbebend die Umstehenden aufgefordert, mit ihm auf dem Kapitol den Göttern für den Sieg über Hannibal zu danken.

Dieser Mann glaubte anders und besser zu sein als seine Standesgenossen. Seine Siege hatten Rom gerettet und ihn dem Himmel nahe gebracht. Selbst sein unversöhnlicher Gegner Sempronius Gracchus, der für ihn sprach, sah es nicht anders:

„Soll Scipio, der Bezwinger Afrikas, zu euren Füßen stehen, ihr Tribunen? Hat er dafür in Spanien vier hochberühmte Heerführer der Karthager und vier Heere geschlagen und in die Flucht gejagt, dazu Syphax gefangen genommen, Hannibal die entscheidende Niederlage beigebracht, Karthago uns tributpflichtig gemacht und Antiochos hinter die Kämme des Tauros zurückgedrängt, dass er zwei Petiliern [die anklagenden Volkstribunen] unterliegt? Werdet ihr es hinnehmen, Mitbürger, dass man nach dem Siegespreis über Publius Africanus trachtet?“

Die Antwort konnte nur „Nein“ lauten. Dies aber musste jeder adligen Solidarität den Garaus machen: „Sollen berühmte Männer“, fuhr Gracchus fort, „nicht aufgrund ihrer Verdienste und aufgrund der von euch erwiesenen Ehren einmal in eine sichere und gewissermaßen unantastbare Burg gelangen, wo sie in ihrem Alter, wenn schon nicht Ehrfurcht gebietend, so doch wenigstens unverletzbar eine bleibende Stätte finden?16

„Die Macht wird immer bei den Waffen sein“

Was der livianische Sempronius vom Staat forderte, war die Anerkennung ungewöhnlicher Leistungen durch ungewöhnliche Ehren und den Verzicht darauf, jeden mit der gleichen Elle zu messen. Verweigerte sich der Staat, ja verletzte er den Stolz und die Ehre seiner adligen Krieger, so wandten sich diese gegen ihn – mit denselben Waffen, mit denen sie, von Senat und Volk beauftragt, Land um Land niedergerungen und der Republik dienstbar hatten.

Hundert Jahre nach dem Groll des Africanus war Sulla der Erste, der seinen Truppen den Angriff auf Rom befahl. Ihm, dem Sieger im afrikanischen Krieg über den Numiderfürsten Jugurtha und erfolgreichen Feldherrn im Kampf gegen die aufständischen Italiker, war als Konsul Unrecht und schwere Kränkung widerfahren: Das Volk, rief er seinen Soldaten zu, habe ihm und seinen Legionen, verführt durch die Clique seiner großmäuligen Feinde, das Kommando im asiatischen Krieg genommen und seinem alten Feind Marius übertragen.

Sulla wehrte sich – wie Coriolan und Scipio -, nur diesmal mit den Tod und Verderben bringenden Mitteln, die ihm das Weltreich und ein willfähriges Heer an die Hand gaben. Die Wachtfeuer, die seine Soldaten auf dem Forum anzündeten, wurden zum Symbol einer Entwicklung, in der der eiserne Ring der staatlichen Disziplin zerbrach, mit dem die Republik die Suche ihrer Eliten nach Ruhm und Ehre eingehegt hatte. Sulla forderte an der Spitze seiner Legionen, was er für sein gutes Recht hielt. Eine Mission hatte er nicht zu erfüllen. Sein Ziel war er selbst.

Dies leitete auch Caesar, als er im Januar 49 mit seinen Truppen den Rubikon überschritt und der Republik den Krieg erklärte. Er hatte in einem achtjährigen Ringen Gallien Rom zu Füßen gelegt, Expeditionen ins ferne Britannien und über den Rhein geführt - nun sollte er als Dank die Rolle des Rentners ernten, sollte ertragen, in einer Welle von Prozessen alles zu verlieren, sollte zusehen, wie die Hoffnungen seiner Soldaten und Gefolgsleute auf angemessenen Lohn ihrer Entbehrungen zerschlagen wurden? Wer dies von ihm verlangte, war ein Narr, den es zu züchtigen galt. Die Züchtigung dauerte fünf Jahre und erschütterte Italien und alle Provinzen. Der gewaltsame Tod des Urhebers dieses Unglücks änderte nichts mehr. Seine Erben begruben in einem 15jährigen Bürgerkrieg, was von dem alten Staat noch geblieben war.

Im Grunde ist die Tragödie der römischen Herrenkaste leicht zu entschlüsseln. Ihre großen Krieger hatten die Herrlichkeiten der absoluten Macht kennen- und lieben gelernt und verglichen sich, als sie beute- und ruhmbeladen aus immer ferneren Ländern heimkehrten, mit Alexander dem Großen. Ihre Standesgenossen, die sie im Senat wiedertrafen, erschienen ihnen ärmlich, beschränkt und unwissend. Jetzt wollten sie allein entscheiden und die Herren des Staates sein, jetzt sollte ihr Wort vor allen anderen Gehör finden. Ihr Anspruch auf Dankbarkeit und Wertschätzung, ihre Forderung nach neuen, großen Aufgaben und ihr Wunsch nach Unsterblichkeit passten sich der Dimension des Weltreiches an, das sie eroberten.

Die neu Hinzudrängenden sahen und lernten, dass wirkliche Macht nur durch Krieg und Ausbeutung zu erringen war. So unterwarfen sie die Außenpolitik ihrem Zugriff und türmten immer ungehemmter große Militärkommandos aufeinander. Von Licinius Lucullus, der 74 bis 64 im Osten kämpfte, erzählte man sich, er habe nach dem Sieg über Armenien davon geträumt, „drei Könige nacheinander niederzuringen und unbezwungen und unbesiegt die drei größten Reiche unter der Sonne zu durchziehen.“17 Wer so dachte und handelte, wurde zur tödlichen Gefahr für die Republik und forderte sie zum Zweikampf um die alleinige Macht.

Als der Augusteer Livius die Geschichte des tödlich gekränkten Scipionen schrieb, war der Vorhang über dem tragischen Schauspiel vom Ende einer Republik gerade gefallen. Es regierte unangefochten der letzte übrig gebliebene General, der von sich sagen durfte, er habe die politische Anarchie beendet und sei als Augustus, der Erhabene, den Göttern nahe.

Der Zerfall der Moral und die Not der Provinzen

Sallust, Parteigänger Caesars, datiert den Beginn allen Übels in das Jahr 146: Die Zerstörung Karthagos habe mit der Furcht vor dem auswärtigen Feind auch die innere Einheit beendet, Adel und Volk gegeneinander aufgebracht, den großen Familien die Macht über den Staatsschatz, die Provinzen, Ämter, Ruhmestitel und Triumphe geschenkt; schrankenlose Habsucht habe sich ausgebreitet, alles besudelt und verwüstet, „bis sie endlich sich selbst in den Abgrund stürzte.“18

Die Beobachtung, der Zusammenbruch der Moral sei die Wurzel des Unheils, das den Staat in die Selbstzerstörung trieb, ist nicht falsch. Aber sie übersieht, dass sich die Umstände, nicht die Menschen geändert hatten. Die Römer waren die Herren eine Weltreiches geworden, und dies gab allen ihren Handlungen ein anderes Gewicht.

Cicero, so liest man bei Plutarch, sei in eine Zeit hineingeboren worden, in der die römischen Feldherrn und Statthalter zum offenen Raub übergegangen seien, „als ob das einfache Stehlen etwas Übliches wäre“; niemand habe die Ausbeutung, sondern allenfalls ihr Übermaß getadelt: „So zeigten sie, dass kein Tier bestialischer ist als der Mensch, wenn zu seiner Habgier auch noch die Macht hinzukommt.“19

Fraglos: Die Raffsucht vergiftete die Regentschaft vieler Statthalter. Nahezu alle gingen ihren Weg zu märchenhaften Reichtümern und Ehren als habgierige Barone, die ihre Provinzen plünderten.

Ihre Methoden waren vielfältig. Als erstes verlangen sie die Bezahlung aller Aufwendungen für sich und ihr Gefolge; was allein dies bedeuten konnte, brachte bereits Cato in Rage, der 198 als junger Prätor in Sardinien fassungslos auf seine Amtsvorgänger blickte, die „sich Zelte, Ruhebetten und Decken stellen ließen und durch ihre zahlreiche Dienerschaft, die Menge ihrer Freunde und die Kosten ihrer verschwenderischen Tafel einen schweren Druck ausübten.“20 Das waren nun gewiss kleine Fische. Aber sie wuchsen, als sich die römische Herrschaft ausdehnte und die Summen stiegen, die für eine große politische Karriere durch das Ausrichten von Spielen, Getreide- und Geldspenden und Bestechungen für Hinz und Kunz aufzuwenden waren.

Auch vermeintlich echte Freunde der Amtsinhaber hielten die Hände auf und dachten nicht an Zurückhaltung. Als Cicero als Statthalter 51 in Kilikien regierte, erbat Caelius Rufus, Volkstribun des Jahres 52, neben Geld die Lieferung von Panthern, um als Bewerber um die Ädilität bei den Spielen in Rom glänzen und alle Konkurrenten ausstechen zu können. Brutus, der spätere Caesarmörder, fraglos einer der Schamlosesten, forderte den Einsatz des Militärs gegen die Stadt Salamis auf Zypern, da sie ihm die geliehenen Gelder nebst Wucherzinsen in Höhe von 48% nicht termingerecht zahlen konnte.21

Aber es waren nicht die Gouverneure und ihre Gefolgsleute allein, die wie die Raubvögel über den Provinzialen kreisten. Nicht minder schlimme Plagen drohten ihnen von den Steuereintreibern. Die Abgaben, die auf dem Grund und Boden lasteten, ließ der Senat durch private Unternehmen erheben, die das Steueraufkommen der Provinz für fünf Jahre gegen Höchstgebot pachteten. Die Pächter (publicani) kamen aus dem Ritterstand; vielfach taten sie sich zu Gesellschaften zusammen, wenn der Auftrag die Möglichkeiten eines einzelnen überstieg. Die Pacht wurde sofort bei der Ersteigerung fällig, und anschließend kam es darauf an, aus der Provinz nun weit mehr als die gezahlte Summe herauszuholen.

Wer nicht zahlen konnte, fiel in die Hände neuer Peiniger. Auch sie stammten zumeist aus den vornehmen Familien Roms und suchten für ihr Geld die besten Anlagemöglichkeiten. Kredite an verschuldete Gemeinden der Provinzen gehörten dazu. Die erste Bonität gehörte den Städten der reichen Provinz Asia. Als sich dort die Schuldenspirale zu drehen begann, schlug die goldene Stunde der Investoren. So etwa an dem Tag, an dem Sulla in Dardanos mit dem pontischen König Mithradates Frieden schloss (85) und den Gemeinden Asiens Reparationen in Höhe von 20.000 Talenten als Ersatz für die Steuerausfälle der letzten fünf Jahre auferlegte. Da Sulla auf der sofortigen Zahlung bestand, wandten sich die Geschundenen an Geldverleiher, denen sie nun Jahr für Jahr immer horrendere Summen an Zins- und Zinseszinsen zahlen mussten; in den folgenden 14 Jahren war der geschuldete Betrag auf schier unglaubliche 120 000 Talente angewachsen, von denen die Städte bereits 40 000 gezahlt hatten. Als Jahre später Licinius Lucullus die Provinz betrat, stockte ihm der Atem:

„Die Provinz war von unsäglichen und unglaublichen Leiden heimgesucht, da sie von Steuerpächtern und Wucherern ausgeraubt und geknechtet wurde. Bürger wurden gezwungen, wohlerzogene Söhne und jungfräuliche Töchter, die Gemeinden, Weihgeschenke, Gemälde und Götterstatuen zu verkaufen. Ihr eigenes Ende war, dass sie ihren Gläubigern zugesprochen und deren Sklaven wurden.“22

Verfolgungen der Übeltäter vor römischen Gerichten blieben selten, Widerstand gab es kaum. Eine Ausnahme machte Geschichte. Als im Jahre 88 der römische Gesandte und Kriegstreiber Manius Aquilius in die Hände des Mithradates fiel, ereilte einen dieser Teufel sein verdientes Schicksal. Mit einer Kette an einen baumlangen Bastarner gefesselt, schleifte ihn ein Reiter hinter sich her und führte ihn der Provinz vor. Am Ende dieser Tortur sättigten die Rachsüchtigen seine Habgier und die seiner Landsleute: In Pergamon gossen die Henker flüssiges Gold in seine Kehle, während in den anderen Städten königliche Todeskommandos sämtliche Römer und Italiker erschlugen und ihre Leichen den Vögeln zum Fraß vorwarfen.

Im Taumel des Bösen: Die Proskriptionen

Im November 43 v.Chr. schmiedeten Antonius, Oktavian und Lepidus das Triumvirat, eine Ausnahmegewalt, die ihnen den Staat auslieferte. Ihre erste Tat war der durch Gesetz legalisierte Massenmord. Den Weg dorthin hatte ihnen Sulla gewiesen, der Ende der 80er Jahre die physische Vernichtung des Gegners als Mittel zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung hoffähig gemacht hatte; damals verfielen mindestens 40 Senatoren und 1.6000 Ritter dem Beil des Henkers oder selbsternannten Kopfjägern.

Jetzt wiederholte sich die Geschichte: Öffentliche Listen machten alle bekannt (proscribere), die als Feinde der Triumvirn galten. Familiäre Rücksichten galten bei dem Gefeilsche um die Namensverzeichnisse nichts mehr, alte Freundschaften ebenso wenig, ja das Ausliefern von Angehörigen und Freunden galt unter den Triumvirn als Beweis unverbrüchlicher Loyalität.

Auf die ersten Listen folgten Ergänzungen, auf denen sich mehr und mehr Männer mit großen Vermögen wiederfanden: „Es war soweit gekommen, dass einer geächtet wurde, weil er ein schönes Stadtpalais oder Landgut hatte.“23 Sie alle wurden für vogelfrei erklärt, ihr Vermögen versteigert, und jeder römische Bürger unter Strafe verpflichtet, Flüchtlinge anzuzeigen.

Es starben oder flohen ins Exil 300 Senatoren und 2.000 Ritter - ein Aderlass, von dem sich die politische Elite Roms, in den Bürgerkriegen ohnehin dezimiert, nur schwer erholte. Ihre Sitze im Senat fielen ebenso wie ihre Reichtümer und ihre Ämter an treue Anhänger der Triumvirn.

Unter den Toten, deren Köpfe auf dem Forum zur Schau gestellt wurden, waren auch die Ciceros und seines Bruders Quintus. Sie hatten die Flucht nur halbherzig vorbereitet. So wurden sie von den Verfolgern gestellt, bevor sie das rettende Schiff erreichen konnten, das sie nach Makedonien bringen sollte. „So werde ich“, soll Cicero gerufen haben, als ihn seine Mörder aus der Sänfte zerrten, „in dem Land sterben, das ich so oft gerettet habe.“24 Den Anführer seiner Henker, der Kriegstribun Popilius, hatte Cicero einst vor Gericht gegen den Vorwurf des Vatermordes verteidigt. Nun verewigte dieser seine Tat stolz in einem Standbild, das ihn sitzend neben dem Haupt des greisen Konsulars zeigte. Dieses Bild veranschaulicht wie wenige den Verfall der politischen und sittlichen Moral, dem die Republik nichts entgegenzusetzen hatte.

Teilhabe an der Macht: Monarch und Adel

Wir sind in Zeiten angekommen, schrieb Livius einleitend in seinem Geschichtswerk, „in denen wir weder unsere Fehler nach die Heilmittel dagegen ertragen können.“ Das Ende der Republik kann man kaum treffender beschreiben. Selbst Tacitus, der um das Verlorene trauerte, sprach den machtbesessenen Adel und den Staat, der sie gewähren ließ, schuldig: „Verleidet war den Untertanen Senats- und Volksherrschaft wegen der Machtkämpfe der führenden Männer und der Habsucht der Beamten; schwach war der Schutz der Gesetze, die durch Eigenmächtigkeit, politische Umtriebe, zuletzt durch Bestechung unwirksam gemacht wurden.“25

Bitterer ist über das Herrschaftsvermögen der Republik und ihre Elite nie wieder der Stab gebrochen worden. Der Satz enthält zugleich Absolution für die Totengräber der alten und Segen für die von Tacitus gehasste neue monarchische Ordnung und ihrem Gründer, der den Krater der Bürgerkriege geschlossen und der Welt den Frieden gebracht hatte.

Die sich schnell festigende Monarchie bewirkte, dass die alten Adelsfamilien ebenso wie die neu hinzugekommenen nun die Republik verloren gaben. Die Regeln, nach denen sie einst die Macht unter sich verteilt hatten, waren außer Kraft gesetzt. Die meisten dankten den Göttern, dass sie am Leben geblieben waren. Sie wollten nun nichts mehr aufs Spiel setzen. Und sie kannten den Preis, der für eine politische Karriere zu zahlen war: dienende Teilhabe an der Macht statt selbstherrliche Verfügung.

Damit aber nicht genug. Es galt sich abzufinden mit den Untaten der Triumvirn und ihrer Handlanger, offene Rechnungen mussten zerrissen, der Ruf nach Rache erstickt werden. „Die beste Verteidigung gegen den Bürgerkrieg ist das Vergessen“ lautete die jetzt gültige Lebensweisheit. Sie hatte schon Cicero beschworen, als er am 17. März 44, zwei Tage nach Caesars Tod, im Senat dazu aufrief, „jede Erinnerung an die Wirren in ewigem Vergessen zu begraben“, da anders der innere Friede nicht zu retten sei. Natürlich ließ sich Vergessen nicht befehlen und Erinnerung nicht verbieten. Aber mehr denn je kam es darauf an, den Schmerz der Bürgerkriege nicht zu verlängern und keine Anlässe für neue Kämpfe zu schaffen.26

Wer sich daran hielt, lernte zu ertragen, im Senat, bei staatlichen Festen und feierlichen Empfängen seinen Todfeinden zu begegnen. Auch der neue Machthaber hatte keine Wahl und verlieh Macht und Ämter an Männer, die ihm in den Jahren des Bürgerkrieges als Feinde gegenübergestanden hatten. Die unangetastete soziale Hierarchie verbot ihm, den Adel auf seine Landgüter zu verbannen und durch eine neue Führungsschicht zu ersetzen – sie existierte nicht. Nur die alten und die im Krieg aufgestiegenen Familien verbanden die eigene Zukunft untrennbar mit dem Schicksal des Imperiums. Nur sie konnten Legionen kommandieren und Provinzen verwalten, und darauf kam es in einem Weltreich an, das sich noch lange nicht am Ziel aller Wünsche sah.

Fraglos fiel der Gedanke an eine Zukunft als Diener eines Mächtigen den Söhnen der alten Herrenkaste schwerer als den Debütanten, die die durch Krieg und Mord verwaisten Plätze im Senat einnahmen. Die meisten hatten sich als Truppenführer den Weg nach oben gebahnt und das Gehorchen gelernt und gefordert. Sie entschädigte der gesellschaftliche Glanz ihrer Stellung und das Ansehen ihrer Ämter für vieles, was ihnen der Alleinherrscher an tatsächlichem politischen Einfluss vorenthielt. Tacitus urteilte über sie boshaft und doch treffsicher: Je unterwürfiger sie sich aufgeführt hätten, um so steiler seien sie durch Reichtum und Ehrenstellen nach oben gelangt; dort angekommen, hätten sie als „Günstlinge der neuen Verhältnisse die Sicherheit der Gegenwart den Gefahren der Vergangenheit vorgezogen.“27

Nicht zuletzt dies öffnete dem Adel den Weg in die Zukunft. Selbst der äußere Glanz kehrte wieder, auch wenn jetzt die rauschendsten Feste und die aufwendigsten Tafeln den Gewinnern des Krieges nicht streitig zu machen waren. Zur Daseinsform der alten und neuen Adelsfamilien gehörten wie seit der Väter Zeiten außerordentliche Besitztümer, ein aufwendiger Lebensstil, ein königlicher Haushalt, Villen im Golf von Neapel, Ländereien in Italien und den Provinzen, eigene Getreidespeicher am Tiber, reichlich Klienten und so viele öffentliche Auftritte wie möglich.

Unverändert galt weiterhin das alte Standesethos des Adels, auch wenn sein herrscherliches Gebaren nur noch als Fassade existierte und der Gehorsam gegenüber dem Herrscherhaus als neue Tugend hinzugekommen war.  So hielt Munatius Plancus, der im Bürgerkrieg rechtzeitig die Seiten gewechselt hatte, auf seiner monumentalen Grabstätte in Gaëta für die Ewigkeit fest, was für ihn und Seinesgleichen das Leben lebenswert machte – ob nun als Herr oder als Diener:

„Lucius Munatius Plancus, Sohn, Enkel und Urenkel eines Lucius, Konsul, Zensor, zweimal als siegreicher Feldherr akklamiert, Septemvir Epulonum; er feierte einen Triumph über die Räter, erbaute aus Kriegsbeute den Saturn-Tempel (neu), verteilte Ackerland (an die Veteranen) in Italien bei Benevent, gründete in Gallien die Städte Lugudunum und Raurica.“28

Da war es, unbeschadet vom Verlust selbstherrlicher Macht, das uralte Grundgesetz aristokratischen Lebens: Politik und Krieg. Es verschaffte dem Imperium die Eliten, ohne die es nicht bestehen konnte und die ihm ein langes Leben sicherten.

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